SZ-Serie Nahverkehr weltweit:In Los Angeles gehört der Stau zum Lebensgefühl

SZ-Serie Nahverkehr weltweit: Es geht eng zu auf den vielspurigen Highways rund um Los Angeles - weil ein gutes Nahverkehrssystem fehlt.

Es geht eng zu auf den vielspurigen Highways rund um Los Angeles - weil ein gutes Nahverkehrssystem fehlt.

(Foto: Mark Ralston/AFP)

Busse und Bahnen sind unpünktlich, die Haltestellen willkürlich angeordnet: Der miese Nahverkehr beschert LA den täglichen Verkehrskollaps. Abhilfe versprechen ausgerechnet die Olympischen Spiele.

Von Jürgen Schmieder

Es gibt ein Video aus Los Angeles, aufgenommen am Vorabend der Feiertages Thanksgiving Ende November. Zu sehen ist der wahnwitzige Verkehr in dieser Stadt. Auf dem Freeway 405 quetschen sich die Autos, es müssen Hunderttausende sein. Vom Hubschrauber aus betrachtet sieht es aus wie zwei Ameisenstraßen: eine rote von Norden nach Süden und eine weiße in umgekehrter Richtung. Gut möglich, dass die Menschen in 100 Jahren über den Irrsinn auf den Straßen dieser Stadt, den das Video dokumentiert, das Gleiche denken, was die meisten heute über die Sklaverei denken: Einfach unfassbar.

Seit Jahren gilt die Metropole an der Westküste der Vereinigten Staaten als die Stadt mit dem schlimmsten Verkehr weltweit. Die Analysefirma Inrix hat ausgerechnet, dass all die Staus in den kommenden zehn Jahren aufgrund vergeudeter Zeit, verschwendeten Benzins und erhöhter Emissionen einen wirtschaftlichen Gesamtschaden von mehr als 91 Milliarden Dollar anrichten dürften.

Die Angelenos, die durchschnittlich 81 Stunden pro Jahr im Stau stehen, lieben dennoch nur wenige Dinge so innig wie ihr Auto. Es gilt als Symbol für Unabhängigkeit und Individualität. Vor vier Jahren haben sie die erste Filiale der Drive-Through-Kette "Wienerschnitzel" am Pacific Coast Highway in die Liste schützenswerter Gebäude aufgenommen - mit der Begründung, dass es ein Wahrzeichen für das Lebensgefühl und die Autokultur in Los Angeles sei. Staus gehören zu dieser Stadt wie das Hollywood-Zeichen.

Öffentlicher Nahverkehr? Gibt es schon, wird halt ausschließlich von Menschen benutzt, die im buddhistischen Sinne als erleuchtet gelten, weil ihnen eine Fahrzeit von zwei Stunden, ein Fußmarsch von eineinhalb Kilometern und drei Umstiege für einen Nettoraumgewinn von drei Kilometern nichts ausmachen. Die zahlreichen Busse und die wenigen Züge sind noch unpünktlicher als Hollywood-Stars. Die Anordnung der Haltestellen wirkt, als hätte jemand mit verbundenen Augen ein paar Stecknadeln auf dem Stadtplan befestigt.

Nur 360 000 Menschen nutzen täglich den Schienenverkehr

Ein Sehenswürdigkeiten-Selbstversuch ergibt: Wer von den Kanälen in Venice Beach zum Walk of Fame möchte, der benötigt für die 20 Kilometer mit dem Auto trotz Stau etwa 50 Minuten (ohne Verkehr wären es nur 30) und mit öffentlichen Verkehrsmitteln knapp zwei Stunden. Wer von dort aus mit der Bahn zum Rodeo Drive will, muss an der Haltestelle am Wilshire Boulevard aussteigen und von dort aus, das ist kein Witz, acht Kilometer laufen. Bliebe nur der Bus, der aber ohne eigene Spur auf dem Santa Monica Boulevard genauso im Stau steht wie das eigene Auto.

In der Metropolregion von Los Angeles leben etwa zwölf Millionen Menschen, pro Tag nutzen allerdings nur 360 000 den örtlichen Schienenverkehr, der auf sechs Linien und 169 Schienenkilometern insgesamt 93 Haltestellen bedient. Zum Vergleich: In New York gibt es bei ähnlicher Einwohnerzahl 36 Linien und 472 Bahnhöfe, vor allem aber gibt es jeden Tag etwa 5,7 Millionen Fahrgäste.

Die Hoffnung ruht auf den Olympischen Spielen 2028

Das führt natürlich zur Frage, warum sie in Kalifornien nicht endlich einmal etwas zur Lösung des Verkehrsproblems tun: Wo man dort doch ständig an der Verbesserung und Verschönerung der Welt bastelt und selbstfahrende oder gar fliegende Autos nicht als Spinnerei, sondern als realistische Zukunftsperspektive gelten. "Dieser Verkehr regt mich auf", sagte Tesla-Chef Elon Musk, der sich gerne als Visionär gibt, vor einem Jahr: "Ich konstruiere jetzt einen Tunnelbohrer und beginne einfach mal zu buddeln." Er gründete das Unternehmen The Boring Company, testet seitdem auf dem Gelände seiner Raketenfirma Space-X verschiedene Bohrer und veröffentlichte im Dezember ein mögliches Tunnelnetz. Klingt alles prima, doch Musk sagt selbst: "Wir haben keine Ahnung, was wir da machen." Sie machen einfach mal. Was bei Musk allerdings meist länger dauert, als er vorher versprochen hat.

Ein Katalysator für eine kurzfristigere Lösung könnte ein Sportereignis sein, das in den vergangenen Jahren eher bekannt dafür war, die Probleme von Städten zu vertuschen und zu verschlimmern als zu verbessern: In Athen und Rio gibt es traurige Olympiaruinen, in Peking ein seit 2008 weitgehend ungenutztes Vogelnest-Stadion und in Sotschi ein 8,5-Milliarden-Dollar-Nahverkehrssystem, das nun wahrlich niemand mehr braucht. In Los Angeles allerdings, da gibt es die berechtigte Hoffnung, dass sich die Olympischen Sommerspiele im Jahr 2028 tatsächlich für die Infrastruktur lohnen könnten.

Das IOC finanziert den Ausbau des Nahverkehrs mit

Sie haben eine Bewerbung abgegeben, die weniger das Versprechen auf ein gigantomanisches Spektakel als vielmehr eine Botschaft der Lässigkeit enthielt, die sich eine Stadt nun mal leisten kann, wenn die jedes Jahr die Oscar-Verleihung stemmt und mittlerweile in jeder bedeutenden Sportart zwei Profiteams vorweisen kann. Es muss keine einzige permanente Sportstätte errichtet werden, die danach zur Ruine verkommen könnte, das meiste ist ohnehin schon da oder wurde unabhängig von Olympia geplant. Was nun schneller realisiert werden muss: der bereits beschlossene Ausbau des Nahverkehrs, der durch Vorschüsse des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) mitfinanziert wird.

"Laut unserem Plan kommen auf die Steuerzahler keinerlei Kosten zu, die Spiele werden komplett privat finanziert", verspricht Bürgermeister Eric Garcetti. Der auf die Durchführung von Großereignissen spezialisierte Ökonom Andrew Zimbalist vom Smith College hält dies für kein typisches Politikerversprechen: "All die Pläne haben grundsätzlich nichts mit Olympia zu tun und wurden auch nicht deshalb verändert - sie könnten nun nur schneller realisiert werden, weil es diesen festgesetzten Termin gibt." Zimbalist war ein Olympia-Gegner, nun sagt er: "Los Angeles hat seine Karten perfekt gespielt und dem IOC signifikante Zugeständnisse entlockt. Die Stadt könnte einen Gewinn von mehr als 400 Millionen Dollar erwirtschaften."

Weitere kostenpflichtige Highway-Extraspuren als Geldquelle

Die lokale Transportbehörde Metro möchte in den kommenden 40 Jahren insgesamt 120 Milliarden Dollar in den Umbau der Infrastruktur investieren: Schnellzüge in die Vororte, eigene Straßen für (bestenfalls bald selbst fahrende) Busse, Fahrradwege zu Haltestellen. Finanziert werden soll das nicht nur durch Steuergelder, sondern auch, und das ist das Amerikanisch-Geniale an diesem Plan, über einen Ausbau der sogenannten Express Lanes.

Der Highway 110 von Süden aus ins Stadtzentrum etwa besteht aus fünf Fahrbahnen und einer Extraspur, die nur von Fahrgemeinschaften benutzt werden darf - oder Einzelfahrern, die dafür je nach Verkehr zwischen ein paar Cent und mehreren Dollar bezahlen. Abgerechnet wird über Kreditkarte und ein an der Windschutzscheibe befestigtes Kästchen. Der Verkehr auf den Schnellspuren ist meist deutlich geringer, es gibt sogar eigene Ausfahrten wie etwa jene, die in der Eröffnungssequenz des Films "La La Land" zu sehen ist.

Der Freeway 405, der mit dem irrwitzigen Verkehrsvideo, soll möglichst bald so eine Fahrbahn bekommen. Man kann die Express Lanes nun als Zwei-Klassen-Verkehr betrachten, oder auch so: Wer weiterhin alleine im Auto sitzen und schnell vorankommen möchte, der soll gefälligst allen anderen den öffentlichen Nahverkehr finanzieren. Es gibt Pläne, neben der Auto-Schnellspur gleich noch eine Fahrbahn für Busse und eine neue Linie für Schienenverkehr zu errichten.

Die Olympia-Eröffnungsfeier als erster Test

Bleibt die Frage, wie die Verantwortlichen den Angelenos beibringen wollen, künftig auf das geliebte Auto zu verzichten. Und auf öffentlichen Nahverkehr umzusteigen. "Die meisten Menschen machen bei einer Revolution nicht deshalb mit, weil die Welt dadurch ein besserer Ort wird", sagt der Tunnelbohrer Musk: "Sie machen mit, weil es sich für sie persönlich lohnt."

Wie das gehen soll, könnte die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2028 zeigen: Die Zeremonie soll im Memorial Coliseum beginnen, dem legendären Stadion südlich der Stadtmitte und Austragungsort der Spiele von 1932 und 1984. Danach soll die olympische Fackel durch L. A .getragen werden, bis zum teuersten Sportpalast der Geschichte, der gerade für 2,7 Milliarden Dollar in Inglewood gebaut wird. Die Strecke sollte der Fackelläufer in weniger als einer Stunde schaffen. Das ist, und das zeigt ein zweiter Selbstversuch, schneller als derzeit die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Die dauert 62 Minuten. Der Autofahrer benötigt je nach Verkehr und Benutzung der Express Lane zwischen 25 und 45 Minuten. Die südliche U-Bahn-Linie sollte bis zu den Spielen fertig gestellt sein, eine Fahrt könnte dann weniger als 25 Minuten dauern. Das wäre tatsächlich ein kräftiges Argument für den Verzicht aufs eigene Auto.

Die SZ berichtet in dieser Serie über den Nahverkehr in den Metropolen der Welt. Alle Folgen finden sich unter www.sueddeutsche.de/nahverkehr.

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