SZ-Serie Nahverkehr weltweit:In Istanbul leben die Fußgänger gefährlich

Auch Straßenbahnen fahren durch Istanbul. Hier im Bild eine historische Tram-Bahn im Stadtzentrum.

In Istanbul verkehren auch Straßenbahnen. Hier ein historisches Exemplar im Stadtzentrum.

(Foto: REUTERS)

Istanbul will seine Verkehrsprobleme mit Bussen, Bahnen und Fähren bewältigen - und gleichzeitig die Autofahrer glücklich machen. Das kann nicht funktionieren.

Von Christiane Schlötzer

Fast jeder Istanbuler kennt die Gedichtzeile: "Istanbul, ich höre Dich, mit geschlossenen Augen." Die Fahrt auf einem der Bosporus-Boote von Europa nach Asien, mit Blick auf Hagia Sophia und Blaue Moschee, dauert etwa 20 Minuten, und dabei hört man außer dem Stampfen des Motors vor allem Möwenschreie. "Es ist die schönste Art, in Istanbul den öffentlichen Verkehr zu benutzen", sagt Haluk Gerçek in einem Café im asiatischen Stadtbezirk Kadiköy. Gerçek lebt hier in der Nähe und benutzt oft die Fähren, er ist einer der bekanntesten Experten der Türkei für nachhaltigen Verkehr. Gerçek, 70, war Professor an der Technischen Universität von Istanbul, heute berät er türkische Städte, wie sie mit der Verkehrsflut umgehen sollen, nicht immer halten sie sich daran.

Gerçek erinnert sich an Besucher von der New York Port Authority, sie wollten wissen, wie es Istanbul schafft, dass jeden Tag 650 000 Menschen die Schiffe auf dem Bosporus, dem Marmarameer und dem Goldenen Horn benutzen. Das sind mehr Bootpassagiere als in New York oder Hongkong, und es ist Weltrekord. Dennoch macht der Schiffstransport nur 3,5 Prozent des gesamten öffentlichen Verkehrs in der Megastadt auf zwei Kontinenten aus. "Das ist sehr wenig", sagt Gerçek. In den letzten Jahren wurden sogar Anlegestellen geschlossen, wenn es nach Ansicht der Stadtverwaltung nicht genug Passagiere gab. Gerçek findet das falsch: "Die waren nicht rentabel, aber öffentlicher Verkehr ist auch ein sozialer Service."

Ende 2016 wurde in Istanbul ein 5,4 Kilometer langer Autotunnel zwischen Europa und Asien eröffnet, an der tiefsten Stelle liegt die doppelstöckige Röhre 106 Meter unter der Meeresoberfläche. Ebenfalls seit 2016 gibt es eine dritte Brücke über den Bosporus. Beide Projekte waren heftig umstritten, Experten fürchteten, dass damit der Autoverkehr weiter zunehmen werde. Brücke und Tunnel kosten Gebühren, der Staat hat den privaten Betreibern Kostendeckung zugesichert, dafür müssen sie ausreichend genutzt werden. Gerçek sieht hier ein "klassisches Dilemma": Istanbuls offizielle Politik ist zwar der Ausbau des öffentlichen Verkehrs, "aber die Regierung will auch die Autobesitzer glücklich machen". Und die stehen in der größten Stadt der Türkei notorisch immer wieder im Stau. Istanbul erreicht regelmäßig weltweit Spitzenwerte im Stau-Index.

Die Regierung, die über alle großen Verkehrsprojekte selbst entscheidet, auch über die Köpfe der Stadtverwaltungen hinweg, verkündete erst jüngst, die Lage habe sich durch Tunnel und Brücke deutlich gebessert, aber das gilt offenbar nur für wenige große Verkehrsachsen. Die Stadt hat sich in den letzten 40 Jahren geradezu explosionsartig entwickelt. 1980 lebten mehr als vier Millionen Menschen in Istanbul, heute beträgt die offizielle Einwohnerzahl 15,3 Millionen, und es könnten auch noch mehr sein, weil viele, die in Istanbul leben und arbeiten, weiterhin dort registriert bleiben, wo sie geboren wurden. Während sich die Einwohnerzahl seit 1980 also mindestens verfünffacht hat, ist die Zahl der Fahrzeuge um das Vierzehnfache gestiegen. Und der Satz des Dichters Orhan Veli, man könnte Istanbul mit geschlossen Augen erkennen, hat im Verkehrsgewühl eine ganz andere Bedeutung als auf dem Wasser - da ersetzt das Gehupe die Möwenschreie.

U-Bahnen fahren in Stoßzeiten alle drei Minuten

Im Vergleich zu Europa oder den USA ist der Anteil der Autobesitzer allerdings immer noch niedrig, zum Glück, kann man sagen. Auf 1000 Einwohner kommen in der Türkei 253 Fahrzeuge. In Deutschland sind es 572, in Italien 676. Es gibt Hunderttausende Istanbuler, die sich gar kein Auto leisten können. Auch das sorgt dafür, dass mehr als die Hälfte des gesamten Verkehrs, 53 Prozent, mit öffentlichen Verkehrsmitteln erfolgt.

Es könnte noch mehr sein, glaubt Gerçek, wenn Fahrpläne besser angepasst wären, also das Umsteigen erleichtert würde. Was es in Istanbul schon seit Jahren gibt, ist ein äußerst simples Tarifsystem: Mit einer Plastikkarte, der Istanbulkart, die sich einfach in allen U-Bahnen und an allen Schiffsanlegern, aber auch an Zeitungskiosken immer wieder aufladen lässt, kann man alle Verkehrsmittel benutzen: Busse, U-Bahnen, Schiffe, Marmaray (eine S-Bahn, die auch den Bosporus unterquert). U-Bahnen fahren in Stoßzeiten alle drei Minuten, das Netz umfasst 120 Kilometer und wird weiter ausgebaut.

Aus Südamerika hat Istanbul vor zehn Jahren zudem die Idee von Rapid-Bussen übernommen, die in hoher Geschwindigkeit auf einer eigenen Trasse fahren, etwa 800 000 Menschen nutzen täglich dieses "Metrobus" genannte System. Der Name soll ausdrücken, dass es sich hier um ein Zwischending zwischen Metro und Bus handelt.

Dolmuș: Im Kleinbus durch Istanbul

Als Istanbuler Erfindung aber gilt der Dolmuș. Heute sind das Kleinbusse, die feste Strecken fahren, aber fast immer halten, wenn ein Passagier aussteigen will. Wer rauswill, ruft ins Getümmel, der Dolmuș ist eigentlich immer voll: "Müsait bir yerde inebilir miyim" (Kann ich bitte an einem geeigneten Platz aussteigen). Die ersten "Sammeltaxis" fuhren schon in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, das Netz war auf 150 Linien angewachsen, bevor es 1954 legalisiert wurde. Weit bevor der Mitfahrdienst Uber erfunden wurde, hatte privater türkischer Unternehmergeist schon ein simples öffentliches Verkehrsmittel geschaffen, das praktisch alle Ecken der Stadt bedient, auch die entlegensten.

Bis heute haben sich die Dolmuș-Fahrer erfolgreich dagegen gewehrt, von den großen städtischen Busgesellschaften geschluckt zu werden. Lange benutzten sie geräumige amerikanische Limousinen, Pontiacs oder Chevrolets, man sieht das noch in alten türkischen Filmen. Die heutigen Minibusse haben dagegen wenig romantischen Charme.

Dolmuș-Chauffeure brauchen gute Nerven im Istanbuler Verkehrsgewühl. Zum Beispiel auf der schmalen Straße am europäischen Bosporus-Ufer mit Blick auf Wasser, Yachten und Villen, sie ist auch nachts noch verstopft. Ein Fahrer klagt, und alle hören es im Dolmuş mit: "Es sind einfach zu viele Leute aus Anatolien gekommen, jedes Jahr werden es mehr." Dass die meisten seiner Fahrgäste wohl ebenso irgendwann aus Anatolien nach Istanbul kamen, wie der Fahrer höchstwahrscheinlich selbst auch, scheint den Mann nicht zu stören. Istanbul ist immer noch der große Magnet des Landes, etwa jeder fünfte Türke lebt hier, und die Stadt wächst und wächst, weg von ihrem Kern, weg vom Wasser, Dutzende Kilometer ins Land hinein.

Haluk Gerçek hat auch seine Kindheit in Istanbul verbracht, "ganz nah am Bosporus, wir sind morgens runter zum Wasser und hineingesprungen". Das würde er heute nicht mehr machen, es ist zu schmutzig. Gerçek kritisiert, dass die Stadt sich immer weiter Richtung Norden entwickelt, wo am Schwarzen Meer gerade der dritte Flughafen gebaut wird, dem neue Trabantenstädte folgen werden. Eine Umweltverträglichkeitsstudie hatte vor Jahren klar vor einer Ausdehnung Richtung Norden gewarnt, weil dort Wälder und Wasserreserven für Istanbul liegen. Die Warnungen wurden ignoriert. Gerçek fürchtet, "die Schäden werden irreversibel sein".

Die Fußgänger leben gefährlich

Je größer die Stadt wird, desto länger die Wege. Nur 17 Prozent der Istanbuler schaffen es, in 30 Minuten ihren Arbeitsplatz zu erreichen. "30 Minuten sind eine erträgliche Zeit", sagt Gerçek. Der Rest ist oft viel länger unterwegs. Dass es im Auto schneller geht als in Bus und Bahn, ist nicht gewiss, das hängt von Tageszeit und Wochentag ab. Aber Autofahren hat in einer Gesellschaft, in der die Einkommensunterschiede groß sind, auch viel mit sozialem Status zu tun. Viele, die es sich leisten können, wählen das Auto - und den Stau.

Immer wieder einmal berichten Frauen von Belästigungen in Bussen, aber gewöhnlich sind die öffentlichen Verkehrsmittel sicher. Die Zeiten, in denen Taxifahrer verheiratet sein mussten, weil man annahm, dann würden sie sich gesittet benehmen, liegen lange zurück. Schlecht geht es in Istanbul sehr häufig den Fußgängern. Die Gehwege sind nicht selten schmal, zugeparkt und voller Stolperfallen. Verkehrsfachmann Gerçek hat jetzt einen Verein zur Förderung des Zufußgehens mitgegründet, nicht in Istanbul, in Izmir, der drittgrößten Stadt der Türkei. Irgendwo muss man ja anfangen.

Der Dichter Orhan Veli, der 1914 in Istan-bul geboren wurde, starb mit nur 36 Jahren in seiner Heimatstadt, er war zu Fuß unterwegs und in eine Baugrube gestürzt. Vielleicht hatte er die Augen geschlossen, um Istanbul besser hören zu können.

Die SZ berichtet in dieser Serie über den Nahverkehr in den Metropolen. Zuletzt erschienen: Warschau (7.4.), Singapur (14.4.), Rom (19.5.), Peking (26.5.). Alle Folgen unter www.sz.de/nahverkehr

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