SZ-Serie: Nahverkehr weltweit:Im Land der Eisenbahn-Fans

Schweiz Zürich Bahnverkehr Mobilität der Zukunft

Ein Lokführer in einem Regionalzug der SBB. Die Schweizer Bahn verbindet alle großen Städte.

(Foto: Valentin Flauraud/Reuters)

Zürich setzt für die Mobilität der Zukunft auf neue Verkehrskonzepte - und auf Wohnen mit Autoverzicht.

Von Charlotte Theile, Zürich

Es gibt kaum ein Land auf der Welt, in dem der öffentliche Nahverkehr eine ähnlich bedeutende Rolle spielt wie in der Schweiz. 2429 Kilometer legt ein Schweizer im Jahr durchschnittlich in Zügen zurück, ein Spitzenwert. Die zweitplatzierten Österreicher kommen auf 1426 Kilometer pro Einwohner, die Deutschen liegen mit 1115 Kilometern immer noch deutlich über dem EU-Durchschnitt (Zahlen von 2014). Dahinter steht eine beispiellose Liebe des Landes zu Eisenbahnen, Tram und Straßenbahnen. In Zürich, der größten Stadt des Landes, ist sie besonders ausgeprägt. Neun von 100 Einwohnern besitzen hier ein Generalabonnement, das Äquivalent zur deutschen Bahncard 100, das ihnen auch freien Zugang zu den Trams, S-Bahnen und einigen Schiffen der Stadt gewährt. Weitere 43 von 100 Zürchern haben ein Halbtax, also eine Bahncard 50. Das ergeben die neusten Zahlen der öffentlichen Verkehrsbetriebe.

Die Bedeutung, die die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) insbesondere für die Städte des Landes haben, lässt sich mit der Kleinräumigkeit erklären. Die großen Zentren der Schweiz liegen in perfekter Pendel-Distanz zueinander: Von Zürich nach Bern braucht der Zug eine Stunde, nach Basel ebenfalls, in Luzern ist man in 45 Minuten. Nur wer nach Genf möchte, ist etwas länger unterwegs. Für die heimatverbundenen Schweizer heißt das: Auch wenn sich die berufliche Situation verändert, kann man meist trotzdem in seiner Stadt wohnen bleiben. Die hohen Kosten für das Generalabo (zur Zeit umgerechnet etwa 3500 Euro im Jahr) können steuerlich abgesetzt werden, die Züge sind pünktlich und sehr verlässlich. Mit unschönen Überraschungen muss beim Pendeln nicht gerechnet werden - und am Wochenende nutzen nicht wenige ihr Generalabo, um mit der Familie in die Berge zu fahren.

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Weltweit schreitet die Verstädterung voran. Bis zum Jahr 2050 werden zwei von drei Menschen auf der Erde in städtischen Gebieten leben, prognostizierten die Vereinten Nationen im Sommer 2014. Zur Mitte des Jahrhunderts würden 9,6 Milliarden Menschen auf dem Globus leben, 6,4 Milliarden davon in Städten. Derzeit wohnen rund 54 Prozent der heute 7,2 Milliarden Erdbürger in Städten, also 3,9 Milliarden. Vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern dürfte die Urbanisierung zunehmen, etwa in Indien, China und Nigeria.

Doch die Stadt muss mitwachsen. Handlungsbedarf sehen die Vereinten Nationen vor allem im Wohnungsbau - und im Verkehrswesen. Wie sollen sich die Menschen in den Städten fortbewegen? Wie wird Mobilität gewährleistet, ohne dass die Metropolen in Abgasen und Lärm ersticken? "Die Idee, dass wir Privatautos nutzen, um die Menschenmassen in einer Großstadt zu befördern, erscheint mir schon heute völlig absurd", meint der britische Mobilitäts- und Zukunftsforscher Dan Hill.

Hinzu kommt: Allein die Anzahl der Megastädte mit mehr als zehn Millionen Einwohnern wird nach UN-Schätzung von derzeit 28 bis zum Jahr 2030 auf 41 steigen. Doch gerade in Entwicklungs- und Schwellenländer sehen viele Bürger riesigen Nachholbedarf - und kaufen zum Beispiel Autos. Sollten Städte in diesen Ländern nun "durch denselben Kreislauf gehen wie europäische Städte in den vergangenen 50 Jahren", so Planer, "haben wir ein Problem".

Weltweit setzen Kommunen daher auf einen Ausbau "grüner Mobilität", auf öffentlichen Nahverkehr und auf "Intermodalität", das vernetzte Zusammenspiel verschiedener Verkehrsträger wie Fahrrad, Bussen und Bahnen und Sharing-Angeboten. In Helsinki beispielsweise erwarten Stadtplaner ein Bevölkerungswachstum um 50 Prozent - und hoffen dennoch, dass der Autoverkehr stark schrumpft, etwa durch zusätzliche Busangebote, mehr Radspuren und gestärkte Stadtteilzentren, sodass Verkehr erst gar nicht entsteht. Städte in Lateinamerika wie La Paz (Bolivien) oder Medellín (Kolumbien) bauen Seilbahnen, um günstig und platzsparend neue Viertel zu erschließen. In dieser Serie wird die SZ in loser Folge beschreiben, wie Städte in aller Welt versuchen, ihre Verkehrsprobleme in den Griff zu bekommen.

Marco Völklein

Wie groß die Bedeutung der Bahn für die Schweizer Seele ist, hat das Jahr 2016 gezeigt: Damals wurde der Gotthardtunnel, derzeit der längste Eisenbahntunnel der Welt eröffnet - ein Jahr vor dem ursprünglich geplanten Datum. Das Land war in diesen Wochen stolz wie selten zuvor, der Bundespräsident sprach von einem "Jahrhundertwerk". Kritiker? Gab es kaum. Es war: der Gotthard, diese 57 Kilometer lange Röhre, die das italienischsprachige Tessin mit der Deutschschweiz verbindet; das sind quasi alle. Der "Service public", also eine öffentliche Infrastruktur, von der alle Bürger profitieren, ist in der Schweiz oft eine Selbstverständlichkeit, die Zusammenarbeit unter den staatlich assoziierten Betrieben funktioniert erstaunlich reibungslos. So fährt man mit dem Generalabo auch in den von der Post betriebenen Bussen kostenlos mit. Nur auf einigen alpinen Strecken müssen Besitzer des Abonnements draufzahlen.

Die Autofahrer, die auch in urbanen Zentren gern geländegängige SUVs kaufen, haben in der Schweiz deutlich weniger Lobby als in Deutschland. Auf den Autobahnen gilt ein Tempolimit von 120 Kilometern in der Stunde, die Strafen für Geschwindigkeitsübertretungen sind für deutsche Verhältnisse drakonisch - im Extremfall wird das Auto des Delinquenten an Ort und Stelle beschlagnahmt. In Zürich wird diese Praxis immer mal wieder Bankangestellten mit Sportwagen zum Verhängnis. Mit Solidarität dürfen sie eher nicht rechnen. Besonders in Zürich, das von einer linksgrünen Mehrheit regiert wird, setzt man inzwischen klar auf ökologische Formen der Fortbewegung und des Zusammenlebens. So wurde zum Beispiel das Projekt Kalkbreite gefördert: Ein genossenschaftliches Wohnprojekt, das 260 Bewohner und 200 Arbeitsplätze beherbergt. Es befindet sich über einem aktiven Tram-Depot. Das Besondere an der Kalkbreite: Jeder der einzieht, verpflichtet sich, kein Automobil zu besitzen. Und auch eine zweite Bahn-Stammstrecke, ein Vorhaben, an dem sich München seit den 1990er-Jahren aufreibt, wurde in Zürich einfach gebaut: Im Juni vor drei Jahren fand die Eröffnungsfeier mit dem Sonderzug "Tunnel Turbo" statt.

Ein neues Abo bietet neben freiem Zugang zu Bussen und Bahnen auch noch E-Autos und E-Bikes an

In manch anderen Feldern sind die ökologischen Absichten der Stadt Versprechen geblieben. Auch in der selbsternannten "Velostadt Zürich" enden die Radwege manchmal einfach ohne Vorwarnung. Wer mit dem Rad in der Stadt unterwegs ist, sollte eine gute Versicherung haben. Die Radwege sind eng, die Unfallzahlen hoch. Doch bei einer relativ überschaubaren Größe von 415 000 Einwohnern ist Zürich für Radfahrer trotzdem sehr attraktiv. Selten ist man länger als 20 Minuten unterwegs - und die Hausberge liegen am Rande des Stadt, sodass man für die normalen Fahrten zum Büro oder zum Supermarkt in der Regel kein Elektro-Bike braucht.

SZ-Serie: Nahverkehr weltweit: Wer im Wohnprojekt Kalkbreite leben möchte, muss auf ein eigenes Auto verzichten.

Wer im Wohnprojekt Kalkbreite leben möchte, muss auf ein eigenes Auto verzichten.

(Foto: V. Schopp/Genossenschaft Kalkbreite)

Praktisch haben viele Zürcher dennoch ein Elektro-Bike. Wer einen der Hausberge hinauffährt, wird alle paar Sekunden von einem motorisierten Einwohner überholt. Zusätzlich gibt es seit einigen Monaten öffentlich zugängliche Elektro-Velos von der Firma Smide. Für 25 Rappen (etwa 20 Cent) je Minute lassen sich die mehr als 200 Räder ausleihen, mit denen man, so der Werbeslogan, in der Stadt 1,4-mal und am Berg 1,8-mal schneller unterwegs sein soll. Der Service funktioniert über eine App. Wenn man angekommen ist, loggt man sich einfach aus und lässt das E-Bike stehen. Kein Wunder, dass sich besonders viele Räder in den Nachbarschaften Hönggerberg, Uetliberg und Zürichberg befinden - und die App ihre User inzwischen mit Bonusminuten dafür belohnt, sie wieder in anderen Stadtteilen abzustellen.

Smide ist jedoch nicht die einzige Firma, die mit Macht in den Mobilitätsmarkt in Zürich hineindrängt. Die auch in München bekannten knallig gelben Obikes sind seit Anfang Juli überall in der Stadt zu finden, darüber hinaus haben die Bundesbahnen ein Pilotprojekt lanciert, das den Gedanken des erfolgreichen Generalabonnements noch etwas weiter treibt.

Seit September testen 300 Personen das Premium-Abo "Green Class E-Bike", das den Kunden eine noch umfassendere Mobilität bieten soll. Neben dem freien Zugang zu den Bussen und Bahnen der SBB erhalten die Abonnenten auch den unbegrenzten Zugang zu einer E-Auto-Flotte sowie zu E-Bikes. Der Preis für dieses Angebot allerdings ist hoch: In der zweiten Klasse zahlt man mehr als 6000 Euro, in der ersten sogar mehr als 8000 Euro im Jahr für das Abo. Noch ist das Projekt aber noch recht weit von einer allgemeinen Markteinführung entfernt. Sowohl die SBB als auch die ETH Zürich, die das Projekt wissenschaftlich begleitet, erhoffen sich vor allem Erkenntnisse über die Mobilitätsbedürfnisse der Kunden.

Interessant könnte für Zürich (und andere Städte des Landes) auch ein weiteres Infrastrukturprojekt werden: eine Art unterirdische Güter-Rohrpost, an der die Schweiz seit Jahren intensiv forscht, ihr Name: Cargo sous terrain. Wie berichtet, sollen damit von 2045 an Güter in einem ausgeklügelten Tunnelsystem verschickt werden. 40 Prozent des Güterverkehrs sollen so von der Straße geholt werden. Viele große Unternehmen und die Politik unterstützen die Idee. Die Schweizer, so viel ist klar, halten große Stücke auf die Schiene. Und auf Tunnel? Erst recht. So gesehen könnte das Milliarden-Projekt, das vielen Ökonomen eher waghalsig erscheint, in der Schweiz tatsächlich Wirklichkeit werden.

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