SZ-Serie Nahverkehr weltweit:Helsinki will jedem die Möglichkeit geben, bequem ohne Auto zu leben

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Helsinki will städtischer werden, dabei aber den Autoverkehr zurückdrängen. Die Pläne, an denen auch die Bürger selbst mitarbeiten, sehen einen Ausbau der Trambahn-Verbindungen vor. (Foto: mauritius images)

Finnlands Hauptstadt baut Autobahnen zurück, die bis ins Zentrum reichen - nur so entsteht genügend Freiraum für die vielen Wohnungssuchenden.

Von Silke Bigalke

In diesem Winter konnte man auch die Abkürzung nehmen und vom Zentrum aus zu Fuß nach Laajasalo gehen. Die Ostsee um Helsinkis Stadtkern herum war zugefroren, das Eis trug. Laajasalo liegt auf einer Halbinsel und ist einer der Stadtteile, die gerade stark wachsen. Doch weil es auch in Finnland nur noch alle paar Jahre kalt genug ist für den Spaziergang übers Meer, baut die Stadt eine Brücke nach Laajasalo.

Eigentlich werden es drei Brücken, die von Insel zu Insel springen. Darunter wird auch die längste Brücke des Landes sein. Wenn sie fertig ist, dürfen nur Radfahrer und Straßenbahnen darauf fahren. Autofahrer müssen weiterhin den längeren Weg außen herum nehmen.

Helsinki ist eine kleine Hauptstadt, eisig im Winter, nie dunkel im Sommer. Eine Stadt, die wohl auch wegen des Wetters oft ein wenig melancholisch wirkt, aber nur selten hektisch, laut und stressig. Etwa 650 000 Menschen leben in Helsinki, nicht mal ein Drittel davon in der Innenstadt. Dort ruckeln die alten, grün-gelben Bahnen gemächlich durch die Straßen, sie sind zu einer Art Symbol für Helsinki geworden, für das Leben in der Stadt.

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Der größere Teil Helsinkis ist jünger als die Straßenbahn und wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut. Die neueren Viertel wuchsen in Form eines Halbkreises um das kleine Zentrum am Wasser herum, oft liegt viel freie Fläche zwischen den Vierteln. Wer nicht im Zentrum wohnt, sondern weiter nördlich, kommt allerdings weder mit der Tram noch mit der Metro dorthin. Das meistgenutzte öffentliche Transportmittel ist daher der Bus - aus Mangel an Alternativen. In der Region Helsinki leben 1,5 Millionen Menschen, mehr als 40 Prozent ihrer Wege legen sie mit Bahn oder Bus zurück. Bis 2050 rechnen die Stadtplaner mit zwei Millionen Einwohnern, viele von ihnen drängen in die Innenstadt.

Helsinki soll deswegen dichter werden, urbaner. Mehr Finnen sollen das Gefühl haben, im Zentrum zu leben, mit einer Straßenbahnhaltestelle vor der Tür und einem Café im Erdgeschoss. Um Platz dafür zu schaffen, musste vor Jahren bereits der Hafen in den Osten umziehen. Viele neue Wohnungen entstehen nun in ehemaligen Hafenvierteln. Die nächste Idee der Stadtplaner ist es, den Autos Platz wegzunehmen - und so Wohnungen für eine Viertelmillion Menschen zu schaffen.

Stadtplaner stellen sich die Zukunft so vor: Die sieben Autobahnen, die jetzt bis tief in die Stadt hinein reichen und dort viel Platz wegnehmen, sollen erst weiter außerhalb beginnen. Die letzten Autobahn-Kilometer werden abgerissen und an ihrer Stelle Boulevards gebaut - Straßen, an denen man gerne wohnt, mit breiten Bürgersteigen und Cafés, Fahrradwegen, Parkstreifen in der Mitte und weniger Platz für Autos. Stattdessen sollen dort neue Straßenbahnlinien fahren. Diese "Boulevardisierung" führt zu einer dichter bebauten Stadt. Ein Drittel der neuen Wohnungen, die die Stadt bis 2050 benötigt, soll entlang der Boulevards entstehen.

Bereits in den vergangenen Jahren hat Helsinki den Nahverkehr stark ausgebaut. 2015 hat die Ringbahn eröffnet, eine Regionalbahn bis zum Flughafen. Und die einzige Metrolinie der Stadt - und übrigens auch die einzige in Finnland - ist bis in die Nachbarstadt Espoo verlängert worden. Im November war Eröffnung, es gibt nun acht zusätzliche Haltestellen. Eine neue Straßenbahnlinie, Jokeri genannt, soll zudem einen Außenring um Helsinki herum erschließen.

Doch auch in Finnland kann man nicht einfach Autobahnen abreißen, ohne dass jemand Einspruch erhebt. Die staatliche Verkehrsbehörde möchte sie im nationalen Straßennetz behalten. Im Januar hat das Verwaltungsgericht in Helsinki entschieden, dass vier der geplanten Boulevards nicht gebaut werden dürfen. Die Stadt Helsinki hat Berufung eingelegt. Sie beginnt nun mit den drei Boulevards, die freigegeben sind. "Die Sache ist nicht gestorben, auch wenn wir diese Schwierigkeiten haben", sagt die stellvertretende Bürgermeisterin Anni Sinnemäki.

Die Politikerin der Grünen sitzt auf dem Sofa in ihrem Büro, den Laptop auf den Knien. "Wir wollen jedem die Möglichkeit geben, bequem ohne Auto zu leben", sagt sie. Ihre Assistentin steckt den Kopf durch die Tür, ihr Mann sei am Telefon. Der holt gerade den Sohn aus dem Kindergarten und will wissen, woran er dessen neue Skischuhe erkennt. "Der urbane Lebensstil ist beliebter geworden", sagt Anni Sinnemäki. Familien mit Kindern, die vor zehn Jahren noch aus der Stadt ins Eigenheim gezogen wären, bleiben nun da, Schulen und Kindergärten seien überfüllt. Sie hat sich vorgenommen, dafür zu sorgen, dass mit der Anzahl der Menschen nicht auch die der Autos in Helsinki steigt.

In Helsinki ist eine ganze Bewegung aus dem Wunsch nach mehr Stadt entstanden. Die Facebook-Gruppe "Mehr Stadt für Helsinki" beispielsweise hat heute mehr als 16 500 Mitgliedern. Vor fünf Jahren haben sich sieben junge Urbanisten zusammengetan, um einen alternativen Stadtplan zu entwerfen. Die Gruppe nennt sich "Pro Helsinki 2.0", und ihr Zukunftsplan unterscheidet sich im Prinzip wenig von dem der Stadtverwaltung. Das Konzept der Boulevards hat die Gruppe unterstützt.

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"Nicht jeder mag diese Idee", sagt Niilo Tenkanen, der eigentlich als Landschaftsarchitekt arbeitet. Schon jetzt könne man kaum mit dem Auto in die Innenstadt fahren, weil es keine Parkplätze gibt, argumentiert er. Die dichtere Bebauung habe mehrere Vorteile: kürzere Wege, erschwinglichere Wohnungen, und außerdem würden so mehr Grünflächen erhalten. Niilo Tenkanen rollt einen Stadtplan aus, der abbildet, wie sich die Initiative das Helsinki der Zukunft vorstellt. Der Plan zeigt viel Grün, die neuen Wohnviertel sind orange. Ihren Entwurf hatte die Gruppe 2014 fertig - noch bevor die Stadtverwaltung ihren Entwurf vorlegte. "Ein großer Erfolg war, dass plötzlich jeder über Stadtplanung gesprochen hat", sagt Niilo Tenkanen. Die Leute hätten erkannt, dass man dieses Thema nicht nur den Beamten überlassen darf.

Wenn die Menschen in Zukunft wirklich keine Autos mehr kaufen würden, sagt Start-up-Gründer Sampo Hietanen, müsste man Städte aber noch ganz anders planen. Sampo Hietanen ist einer von denen, die "Mobilität als Service" verkaufen. Er verspricht seinen Kunden, sie von A nach B zu bringen - mit allen Mitteln, die es gibt, mit Ausnahme des eigenen Autos: Bus, Bahn, Taxi, Mietwagen und bald auch mit Leihfahrrädern. Sollte sich diese Idee durchsetzen, würden Städte nicht mehr von Straßenkorridoren dominiert, sondern von "hubs". Er meint damit Orte, an denen Menschen an den öffentlichen Nahverkehr andocken - also die nächste Haltestelle, die sie mit Taxi, Leihwagen oder Carsharing erreichen.

Sampo Hietanen hat eine App entwickelt, mit der man quasi ein Ticket für den gesamten Weg kauft, egal, womit man fährt und wie oft man umsteigt. Man kann auch ein Abo abschließen und dann alle Transportmittel frei nutzen, die Helsinki zu bietet hat. Taxifahrten sind dabei allerdings auf fünf Kilometer begrenzt, das reicht meist bis zur nächsten Haltestelle. "In unseren Köpfen steht das Auto für Freiheit", sagt Sampo Hietanen. Er will den Leuten mit seiner App "Whim" zeigen, dass sie auch ohne Auto überall hinkommen.

Seit Sommer kann man die App herunterladen, seit November macht er Werbung dafür. In Helsinki gibt es bereits 30 000 Nutzer. "Das lief viel besser als gedacht", sagt Sampo Hietanen. Allerdings gab es dann auch mehr Anrufe von Kunden als erwartet. Firmen meldeten sich und fragten, ob das unbegrenzte Whim-Abo ähnlich besteuert wird wie der Firmenwagen. Privatkunden wollte sich vergewissern, dass es die App auch in sechs Monaten noch gibt, bevor sie ihr Auto verkaufen. Noch funktioniert nicht alles reibungslos. Ein Taxi zum Flughafen zu ordern, stellt sich beispielsweise als problematisch heraus, weil es dort eine Taxi-Schlange gibt. Sampo Hietanens Traum ist, sein Angebot auf ganz Europa auszuweiten. Dafür brauche er allerdings Zugang zu allen möglichen Tickets von öffentlichen und privaten Verkehrsunternehmen, und zwar in digitaler Form.

Mit seiner App kann man auch beobachten, wie sich die Menschen durch die Stadt bewegen. An dem Tag im November, an dem die neue Metro eröffnete, haben mehr Menschen ein Metro-Ticket gekauft als normalerweise, aus Neugier wahrscheinlich. Und als Ende Februar die Temperatur auf minus 25 Grad fiel, war das Auto für viele eine Option: Selbst die hartgesottenen Finnen sind da aufs Taxi umgestiegen.

Die SZ berichtet in dieser Serie über den Nahverkehr in den Metropolen der Welt. Alle Folgen unter www.sueddeutsche.de/nahverkehr

© SZ vom 31.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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