SZ-Serie Nahverkehr weltweit:Die Bus-Mafia herrscht über Rio de Janeiro

Vehicles traveling on Avenida Nossa Senhora de Copacabana in Copacabana neighborhood Rio de Janeiro

Die Busse in Rio sind weiß-gelb lackiert. Für viele Einwohner sind die Fahrpreise zu teuer.

(Foto: imago/AGB Photo)

Statt verlässlicher Fahrpläne gibt es Ticketpreise, die sich kaum ein Bewohner leisten kann. Rio ist die Geisel eines Kartells von Busunternehmern, dessen "König" nun im Gefängnis sitzt.

Von Boris Herrmann

Man nennt ihn "O Rei do Ônibus", den König der Omnibusse. Jacob Barata Filho, 62, hat sein Imperium von seinem Vater Jacob Barata geerbt. Es besteht aus einer Flotte von 6000 Bussen, mit denen der Familienbetrieb Grupo Guanabara seit einem halben Jahrhundert den Markt des öffentlichen Nahverkehrs in Brasilien beherrscht, vor allem den von Rio de Janeiro. Es ist ein Markt, auf dem wenig Gesetze gelten, mal abgesehen vom Gesetz des Stärkeren. Das Gesetz des Königs der Omnibusse.

Für Außenstehende ist nicht ersichtlich, dass es diesen Markt überhaupt gibt. Alle Busse in Rio sind weiß-gelb lackiert. Es sieht aus wie die Corporate Identity eines städtischen Verkehrsbetriebes. Aber das täuscht - und zwar ganz bewusst. Verschleiert wird mit dieser Einheitsfarbe, dass jede einzelne der 541 Buslinien privatwirtschaftlich betrieben wird, von über 40 Firmen, die sich wiederum in ein paar große Kartelle aufgeteilt haben. Eine aktuelle Studie von PricewaterhouseCoopers (PwC), deren Ergebnisse vorab von verschiedenen lokalen Medien veröffentlicht wurden, belegt, dass die Stadt wenig zu melden hat bei der Organisation des mit Abstand wichtigsten öffentlichen Verkehrsmittels von Rio. Die Fahrpreise, die Fahrtrouten, die Abfahrtszeiten, all das bestimmen die Busunternehmer - und keineswegs das Rathaus. Man lehnt sich nicht weit aus dem Fenster, wenn man von einer Bus-Mafia spricht.

So sehen das offenbar auch die Ermittler der Operacão Lava Jato (Autowäsche), der größten Anti-Korruptions-Operation in der Geschichte Brasiliens. Vor wenigen Tagen ließen sie Jacob Barata Filho verhaften. Die Staatsanwälte werfen ihm vor, Lokalpolitiker über Jahre hinweg mit mindestens 260 Millionen Reais (aktuell sind das rund 70 Millionen Euro) bestochen zu haben. Damit soll sich Barata Filho öffentlich verkündigte Fahrpreiserhöhungen erkauft haben. Und dazu noch erhebliche Steuervergünstigungen. Wenn nur die Hälfte stimmt von dem, was dem Omnibus-König von den Ermittlern zur Last gelegt wird, dann muss man sich nicht wundern, dass die öffentlichen Nahverkehrsmittel von Rio an den Bedürfnissen der meisten Kunden vorbeifahren.

Im Großraum Rio leben über zwölf Millionen Menschen. Die Mehrheit wohnt fernab der postkartentauglichen Südzone und kann sich kein eigenes Auto leisten. In der Südzone sowie im tagsüber geschäftigen und nachts weitgehend ausgestorbenen Zentrum der Stadt, dem Centro, befinden sind aber gut zwei Drittel der Arbeitsplätze. Hunderttausende pendeln deshalb täglich in die Innenstadt, die meisten von ihnen sind auf Busse angewiesen. Denn wie fast überall in Brasilien hat auch in Rio de Janeiro der Straßenverkehr die Schiene fast vollständig verdrängt.

"Staus sind ein Zeichen des Fortschritts"

Das hängt nicht zuletzt mit ideologischen Gründen zusammen. In der brasilianischen Gesellschaft sind immer noch viele der Meinung, dass sich der Grad der Modernität nach der Zahl der Autos auf den Straßen bemesse. Beispielhaft steht dafür der berühmte Ausspruch von Paulo Maluf, dem ehemaligen Bürgermeister von Brasiliens größer Stadt São Paulo: "Gott sei Dank gibt es Staus. Sie sind ein Zeichen des Fortschritts."

In diesem bizarren Fortschritts-Ranking hat Rio inzwischen São Paulo ein- und teilweise sogar überholt. Die Cariocas, die Bewohner Rios, brauchen im Schnitt 52 Minuten für ihren Weg zur Arbeit. Die Paulistanos sind 47 Minuten unterwegs. Das ist laut einer Studie des Ökonomen Guilherme Vianna mit dem Angebot an öffentlichem Nahverkehr zu erklären. In São Paulo existiert ein U-Bahn-Netz, das diesen Namen verdient. In Rio versucht die Stadtverwaltung mit kreativen Tricks den Anschein zu erwecken, es gäbe ein Netz. Am Tag vor der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2016 wurde die neue Linie 4 eingeweiht. Sie ist aber nichts anderes als ein Wurmfortsatz der Linie 1, man muss nicht einmal umsteigen, der Zug fährt einfach weiter. Die Linie 2 wiederum verläuft in der gesamten Innenstadt parallel zur Linie 1. Eine Linie 3 gibt es nicht.

Zwei bis drei Stunden in überfüllten Bussen

Damit der Netzplan aber nicht ganz so kahl aussieht, ist an mehreren Stellen eine sogenannte "Metro na Superficie" eingezeichnet, eine "Metro an der Oberfläche". Das ist ein sehr brasilianischer Ausdruck für: Hier fährt ein Omnibus, aber wir nennen es U-Bahn.

Hinzu kommt: 52 Minuten Arbeitsweg - das ist ein Durchschnittswert. Nicht wenige Menschen, die in den nach Norden und Westen ausfransenden Armengegenden der Metropolenregion wohnen, sind morgens und abends zwei bis drei Stunden in teils völlig überfüllten Bussen unterwegs. Wenn es stark regnet, kann es noch länger dauern, denn dann herrscht grundsätzlich Verkehrschaos.

Daran haben auch die Olympischen Spiele nichts geändert, entgegen aller Versprechungen. Die beiden großen Schienenprojekte, die als "das olympische Erbe" vermarktet wurden, mögen tatsächlich einiges verbessert haben - allerdings nicht für die Mehrheit der Einwohner. Die neue Straßenbahn, die im Zentrum ihre Kreise dreht, ist vor allem eine touristische Attraktion. Und die Verlängerung der U-Bahn vom schicken Badestand Ipanema in die neureiche Trabantenstadt Barra da Tijuca verkürzt in erster Linie die Fahrtzeiten der oberen Mittelschicht.

Die Fahrpreise stiegen schneller als die Inflation

Manche sagen, mit Olympia habe die Stadt eine große Chance verspielt, vor allem beim öffentlichen Nahverkehr. Der Verdacht liegt aber nahe, dass es nie wirklich darum ging, diese Chance zu nutzen. Wissenschaftler, Menschenrechtsgruppen und Nichtregierungsorganisationen klagen seit Langem über den fatalen politischen Einfluss der Bus-Mafia. Die Entscheider in der Stadtverwaltung haben damit anscheinend kein Problem, sie waren ja offenbar auch stets gut geschmiert. Über Jahre hinweg stiegen die Fahrpreise schneller als die Inflation, bei gleichzeitig sinkendem Service. Eine Busfahrt durch Rio fühlt sich in vielen Fällen an wie ein Schleuderwaschgang. Wer einsteigt, sollte sich nicht nur gut festhalten, sondern auch wissen, wo es hingeht. So etwas wie einen Fahrplan gibt es nicht, von Informationen über die Abfahrtszeiten ganz zu schweigen. Man wartet einfach an der Haltestelle. Manchmal kommt der 107er nach zehn Minuten, manchmal nach zwanzig, manchmal gar nicht. Dann kommen wieder vier auf einmal.

Schwer einzusehen ist, warum dieses sogenannte System für die Kunden immer teurer werden soll. Daran haben sich 2013, ein Jahr vor der brasilianischen Fußball-WM, auch die großen Protestmärsche in Rio entzündet. Seltsamerweise verlagerte sich die Wut der Straße aber bald wieder, sie richtete sie sich allgemein gegen die Geldverschwendung bei sportlichen Mega-Events und mutierte schließlich zur Keimzelle einer rechten Bewegung gegen die Linksregierung von Dilma Rousseff. Die Busunternehmer hatten jedenfalls schnell wieder ihre Ruhe. Und machten so weiter wie immer.

Geisel der privaten Busunternehmer

Als ein kleines konkretes Ergebnis der Fahrpreisproteste blieb immerhin jene PwC-Studie übrig, die der frühere Bürgermeister Eduardo Paes in Auftrag gab, und die der Stadtverwaltung nun sinngemäß attestiert, eine Geisel der privaten Busunternehmer zu sein.

Ein Busticket kostet derzeit etwa einen Euro. Das ist längst nicht so günstig, wie es klingen mag. Zum einen, weil ein Großteil der Stammkundschaft mit ein paar Hundert Euro im Monat auskommen muss. Zum anderen, weil man bis auf wenige Ausnahmen mit einer Fahrkarte nicht umsteigen kann. Jeder Bus muss neu bezahlt werden, da summieren sich schnell drei, vier Euro für eine Fahrt von den Vorstädten ins Zentrum. Es gibt auch keine vergünstigten Monats-, oder Jahreskarten. Mit all dem kann eigentlich niemand zufrieden sein - abgesehen von den Bus-Kartellen.

Das hübscheste, günstigste und wohl auch beliebteste öffentliche Verkehrsmittel von Rio war bis vor ein paar Jahren die Bonde (gesprochen "Bondschi"), die kleine, gelbe Straßenbahn ohne Türen, die in den Altstadtteil Santa Teresa hinaufzuckelte. So, dass man während der Fahrt aufspringen konnte. 2011 kamen sechs Menschen ums Leben, als ein Bähnchen entgleiste. Der Betrieb wurde vorübergehend eingestellt und durch Busse ersetzt, natürlich zu den üblichen, deutlich teureren Fahrpreisen.

Aus dem Ersatzverkehr ist ein Dauerzustand geworden

Nach ein paar Jahren merkten die Bewohner von Santa Teresa, dass aus dem vorübergehenden Ersatzverkehr ein Dauerzustand geworden war. Die Trasse der Bonde wurde stetig renoviert, aber sie wurde nie ganz fertig. Einmal, als die Neueröffnung angeblich kurz bevorstand, hieß es, die Schienen seien falsch verlegt worden. Dann wurde alles wieder aufgerissen. Inzwischen wird immerhin ein Teilstück bedient - zum "Touristenpreis" von rund sieben Euro. Die Anwohner nehmen den Bus. Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um festzustellen: Dank der zuverlässigen Zuwendungen aus der Busbranche hat wohl auch der politische Wille gefehlt, um ein über hundert Jahre altes Bähnchen wieder zu den traditionellen Konditionen in Betrieb zu nehmen.

Dass Jacob Barata Filho, der König der Omnibusse, jetzt in Untersuchungshaft sitzt, dürfte bei vielen Einwohnern ein Gefühl der Schadenfreude auslösen.

Die SZ berichtet in dieser Serie über den Nahverkehr in den Metropolen der Welt. Lesen Sie alle Folgen unter www.sueddeutsche.de/nahverkehr

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