SZ-Serie Nahverkehr weltweit:"Das Transportsystem von Kairo ist Chaos"

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Wer es sich leisten kann, fährt in Kairo mit dem eigenen Auto. Oder besser: Er steht damit im Stau. (Foto: Khaled Desouki/AFP)

Das U-Bahnnetz wächst zu langsam. Busse und Taxis sind unzuverlässig. Eine Fahrt im Microbus ist gefährlich. Die Folge: Ägyptens Hauptstadt versinkt jeden Tag im Stau.

Von Paul-Anton Krüger, Kairo

Fast so viel Eindruck wie die majestätischen Pyramiden von Gizeh hinterlässt bei Besuchern Kairos der infernalische Verkehr. Mit durchschnittlich gerade einmal 16,5 Kilometern pro Stunde quälen sich Autos, Motorräder und Busse Stoßstange an Stoßstange über die notorisch verstopften Straßen der Metropole, in deren Großraum mittlerweile an die 25 Millionen Menschen leben. Entspanntes Cruisen versprechen allenfalls die Nil-Busse, alte Passagier-Boote, die nach Fahrplan auf dem Strom verkehren, und moderne gelbe Motorboote, die als Ruf-Taxis fungieren - aber entsprechend teuer sind.

Auf den Straßen steht man meist in der Rushhour. Morgens von sieben bis elf Uhr und dann wieder ab nachmittags um drei kommt man auf vielen innerstädtischen Verkehrsachsen laut einer Studie der Weltbank aus dem Jahr 2014 nur mit sechs Kilometer pro Stunde voran: Schrittgeschwindigkeit. Die Fahrt vom Zentrum am Tahrir-Platz zum 20 Kilometer entfernten Flughafen dauert nachts kaum 15 Minuten, zum Beginn des Wochenendes am Donnerstagnachmittag kann dieselbe Strecke gut zwei Stunden in Anspruch nehmen.

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"Das Transportsystem von Kairo ist Chaos", sagt David Sims, Stadtplaner und Autor mehrerer Standardwerke über die mit Abstand größte Stadt der arabischen Welt. "Die U-Bahn ist das einzige, was den Großraum vor dem Verkehrskollaps retten könnte." Als einziges Verkehrsmittel steckt sie nicht im Stau und wäre überhaupt in der Lage, die benötigten Transportkapazitäten bereitzustellen. "Aber ihr Ausbau geht so langsam voran, dass ihr Wert als stadtweites System immer vom Wachstum der Stadt neutralisiert wird", sagt Sims. Pro Jahr wächst die Zahl der Einwohner im Großraum um eine halbe Million. Ursachen sind die hohe Geburtenrate und ungebremster Zuzug vom Land.

Bereits Anfang der Siebzigerjahre, als Kairo gerade einmal sieben Millionen Bewohner zählte, erreichte die Infrastruktur ihre Belastungsgrenze. Internationale Berater gelangten zur Schlussfolgerung, eine Metro sei der einzige Ausweg, um mit dem rapide wachsenden Verkehrsaufkommen fertig zu werden. Doch erst 1987 eröffnete die erste Linie, die zwei bestehende überirdische Vorortbahnen der Nord-Süd-Achse durch einen Tunnel unter der Innenstadt mit fünf Stationen miteinander verband. Die zweite, vollständig neu gebaute Strecke ging erst 2005 vollständig in Betrieb. Von der dritten wurde 2012 ein Teilstücke eingeweiht, 2014 ein zweites.

Die Baustellen verschärfen das Chaos

Derzeit werden in der dritten von vier Ausbauphasen neue Stationen errichtet; die Baustellen verschärfen vielerorts das Chaos. Eine vierte Strecke des einzigen voll ausgebauten U-Bahnsystems in Afrika ist seit 1987 über das Planungsstadium nie hinausgekommen. Damit besteht das Netz derzeit aus 83 Kilometern, also 3,3 Kilometer pro eine Million Einwohner. Der Vergleichswert für Paris liegt bei 150, für London bei 168. Dennoch wird die Metro in Kairo von knapp vier Millionen Fahrgästen pro Tag genutzt, viele von ihnen Pendler.

Die U-Bahn ist vergleichsweise sauber und sicher, zwei Wagen pro Zug sind für Frauen reserviert. Zwar sind die meisten Züge inzwischen klimatisiert, in den Stoßzeiten aber sind sie hoffnungslos überfüllt, ebenso zentrale Stationen. Wegen des Gedränges an den Türen klappt dann auch der Drei-Minuten-Takt nicht mehr, den die Züge eigentlich fahren sollen. Der Ticketpreis ist mit zwei Pfund, umgerechnet zehn Cent, unschlagbar günstig. Die Regierung will aber streckenabhängige Tarife von drei bis sechs Pfund einführen. Viele Menschen aus ärmeren Schichten, die auf die U-Bahn angewiesen sind, können sich das nicht leisten, die meisten Mittelklasse-Ägypter aber meiden die U-Bahn ohnehin.

ÖPNV oder Auto? Eine Frage des Status

Den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen, ist in Ägypten auch eine Frage des sozialen Status: Wer es sich leisten kann, fährt mit dem eigenen Auto oder lässt sich sogar fahren - von einem Chauffeur. Private Autos machen drei Viertel des Verkehrs aus, aber weniger als 15 Prozent der zurückzulegenden Wege. Das ist der Grund für das ewige Stau-Chaos. Verschärft wird die Situation noch dadurch, dass es der Traum der Mittelklasse ist, der hoffnungslos überbevölkerten Stadt zu entkommen und in einen der rund um Kairo aus dem Wüstensand gestampften Vororte zu ziehen - Retortenstädte mit Hunderttausenden Einwohnern, die wiederum kaum mit Massenverkehrsmitteln angebunden sind.

Als Ausweichoption blieb lange vor allem das Taxi, meist weiße Hyundai Verna, die mit Flüssiggas aus Tanks im Kofferraum betrieben werden. 120 000 sind im Großraum Kairo unterwegs. Die Grundgebühr beträgt umgerechnet 25 Cent, acht Kilometer kosten insgesamt einen Euro. Die gebotene Qualität ist reine Glücksache, mit der Zeit entwickelt man ein Auge dafür, den gröbsten Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen. Zu den üblichen Ärgernissen zählen Taxifahrer, die sich weigern, zum gewünschten Ziel zu fahren, Autos, deren Sitze so dreckig und verstaubt sind wie die Straßen Kairos, frisierte Taxameter, wenn sie überhaupt eingeschaltet werden; Streit um den Fahrpreis ist dann programmiert. Oder Taxler, die nichts dabei finden, ihre Fahrgäste mit Kleopatra-Zigaretten vollzuqualmen, selbst wenn Kleinkinder im Wagen sind.

Kein Wunder, dass Ägypten für den Mitfahrservice Uber zum weltweit am schnellsten wachsenden Markt geworden ist, ebenso für den Konkurrenten Careem aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Uber war zum Start im November 2014 ein Geheimtipp unter internetaffinen Ägyptern wie Ausländern und nur mit einer Kreditkarte zu benutzen. Dafür wurden die Kunden mit sauberen, neuen Autos von höflichen Fahrern kutschiert, die sich an Geschwindigkeitsbeschränkungen und andere Verkehrsregeln wie das Handyverbot hielten. Dann machte die Firma es mit der Einführung einer Bar-Option zum Massenphänomen. Mehr als 40 000 Fahrer sind heute für das Unternehmen pro Monat in Kairo unterwegs, ähnlich viele für Careem.

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Damit litt die Qualität gehörig. Inzwischen vermieten Firmen Autos an Fahrer, die Vollzeit für Uber hinter dem Steuer sitzen. Dazu kommen Ägypter, die sich ihr mageres Gehalt als Teilzeitfahrer nach ihrem regulären Job aufbessern - und dabei nicht immer frisch ausgeschlafen wirken. Uber versucht, dem mit Schulungen Herr zu werden, und hat eines der weltweit größten Servicecenter mit 400 Mitarbeitern in Kairo angesiedelt (das allerdings auch 15 andere Länder Afrikas und der arabischen Welt betreuen muss). Die Erfolge sind durchwachsen - wie bei den Taxis kommt inzwischen fast alles auf den Fahrer an.

Busfahren ist ein Glücksspiel

Positiver Nebeneffekt: Nach etlichen Demos, Streiks und Straßenblockaden hat sich ein Teil der Taxifahrer gefragt, ob der Erfolg der ungeliebten Konkurrenz vielleicht auch der Qualität der eigenen Dienstleistung geschuldet ist. Über den Messengerdienst WhatsApp bringen sie inzwischen Stammkunden mit Fahrern zusammen, die sich Qualitätsstandards verpflichtet haben. Das ist oft schon wieder die bessere Alternative zu Uber und Careem.

Die Mehrheit der Bewohner von Kairo aber kann sich weder Uber noch Taxi leisten. Sie sind auf die U-Bahn angewiesen und müssen oft auf Busse umsteigen, um ans Ziel zu gelangen. Mehr als 3000 fahren davon in Kairo. Ein Teil davon sogenannte Minibusse, die etwa die halbe Zahl an Passagiere befördern wie die regulären. Zum Vergleich: In Berlin betreibt allein die BVG 1400 Busse. In Kairo gibt es zwar Fahr- und Routenpläne, die aber allein der Fahrer zu kennen scheint. Haltestellen sind meist nicht markiert, die Busse bleiben kaum stehen. Wer mitfahren will, muss aufspringen.

Microbusse als Rückgrat des Nahverkehrs

An diesen rauen Sitten haben auch neue Fahrzeuge nicht viel geändert, die teils von den Vereinigten Arabischen Emiraten zur Verfügung gestellt wurden. Sie sind klimatisiert und noch nicht verbeult und verdreckt. Manche haben sogar WLan, das aber nicht immer funktioniert. So sollen Menschen zum Umsteigen animiert werden. Ein Unterfangen, dem Stadtplaner Sims kaum Chancen gibt. Überdies verschärfe jeder Bus den Stau; die staatliche Betreibergesellschaft Cairo Transport Authority habe sich als komplett unfähig erwiesen, innovative Projekte wie Expressbus-Linien seien kläglich gescheitert.

Deswegen bilden für viele Strecken Microbusse das Rückgrat des Nahverkehrs. Das sind weiße Elf-Sitzer vor allem aus japanischer Produktion, in Gizah aber auch noch alte T2-VW-Bullis. Insgesamt sollen in Kairo 60 000 Microbusse fahren. Beliebt ist dieses Transportmittel, weil es billig ist und in hoher Frequenz bald rund um die Uhr fast überall hin fährt, auch in der Peripherie und den informellen Vierteln, in denen zwei Drittel der Bewohner von Kairo leben - billige Wohngebiete, die ohne Stadtplanung hochgezogen werden. In diesen Gegenden sind die Straßen so eng, dass im Hochsommer mittags die Straßenlampen brennen; die senkrecht stehende Sonne erreicht zwischen den acht oder zehn Stockwerken hohen Gebäuden die Straße nicht. Hier könnten Busse nie fahren, es passen oft keine zwei Autos aneinander vorbei.

Verhasst sind die Microbusse wegen der Enge und weil die Fahrer im Wettbewerb um Passagiere rücksichtslos heizen; immer wieder passieren schwere Unfälle. Überdies nehmen diese Sammeltaxis ihre Fahrgäste direkt am Straßenrand auf und tragen damit maßgeblich zum Stau an wichtigen Knotenpunkten der Stadt bei. Für den letzten Kilometer in diesen Vierteln und für Kurzstrecken sind in den vergangenen Jahren zudem Tuk-Tuks populär geworden, motorisierte Dreiräder, die gerne von ihren Fahrern mit Dornen an den Radnaben verziert werden, wie sie bei antiken Streitwagen üblich waren. Die Mehrheit der Ägypter zwängt sich lieber in diese Gefährte, als auch nur einen Meter zu Fuß zu laufen.

Die SZ berichtet in dieser Serie über den Nahverkehr in den Metropolen der Welt. Alle Folgen finden sich unter www.sueddeutsche.de/nahverkehr.

© SZ vom 24.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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