SZ-Serie Nahverkehr weltweit:Autofahrer sind in Tel Aviv fast so langsam wie Fußgänger

Gare routiere de Tel Aviv, Israel

Vom "Monstrum" sprechen die Menschen in Tel Aviv, wenn sie den zentralen Busbahnhof meinen.

(Foto: Julien Faure/REA/laif)

Weil es keine U-Bahn gibt, fahren alle anderen Bus - oder Auto. Wer sich auf den Straßen der israelischen Stadt durchsetzen will, braucht gute Nerven.

Von Alexandra Föderl-Schmid

Auf einer riesigen Leinwand sind schemenhaft die Umrisse von Tel Aviv zu erkennen, Hunderte gelb hinterlegte Zahlen blinken auf, viele Felder sind rot. Im Kontrollraum der Verkehrsbetriebe im zehnten Stock des Hochhauses an der belebten Shaul-HaMelech-Straße hat etwa ein Dutzend Mitarbeiter auf Monitoren die Lage unter Kontrolle. Sie sehen auf einen Blick, welche der rund 2000 Busse den Fahrplan einhalten können und wo es Probleme gibt - was die Farbe Rot signalisiert. "Staus und Baustellen sind unser größtes Problem", sagt Alon Elman, der für Prozesse und Organisation zuständige Manager und Vertreter des CEO von Dan, dem größten Busunternehmen in Israel.

Die Mitarbeiter im Kontrollraum können die Problembereiche näher heranzoomen, denn rund ein Viertel der Busse sind mit Kameras ausgestattet. Die Informationen, mit welchen Verzögerungen zu rechnen ist, werden intern weitergegeben. Die Ankunftszeiten der einzelnen Busse werden dann auf elektronischen Tafeln an den Haltestellen aktualisiert.

Wer sich auf Tel Avivs Straßen begibt, braucht gute Nerven, denn der ganze Verkehr spielt sich an der Oberfläche ab. Obwohl diese Stadt international den Ruf eines Zentrums für Hochtechnologie genießt, gibt es nicht einmal eine U-Bahn. Frühestens 2040 werde es eine Metro geben, meint der für den öffentlichen Verkehr in Tel Aviv zuständige Leiter, Nadav Levy. Und das bei kräftig wachsender Bevölkerung, wie der Bauboom bei den Hochhäusern und die steigenden Immobilienpreise zeigen. An einer Straßenbahn, die teilweise auch unterirdisch geführt werden soll, wird gebaut. Die erste Linie soll frühestens 2021 fertiggestellt sein, "die Rote" wird sie heißen.

Derzeit gibt es 92 Buslinien, 14 000 Fahrstunden kommen pro Tag zusammen. Von den rund drei Millionen Einwohnern im Großraum Tel Aviv nutzen etwa 700 000 pro Tag die Busse von Dan. Davon sind rund 120 000 regelmäßige Nutzer, denn sie haben eine Monatskarte. Mit 5,90 Schekel (1,39 Euro) ist ein Einzelfahrschein im Vergleich zu europäischen Metropolen günstig. Wer in die Busse einsteigt, muss sich auf die rasante Fahrweise der Fahrer einstellen und darf keine Platzangst haben. Denn meistens sind die Busse so voll, dass man trotz des oft ruppigen Abbremsens nicht umfallen kann.

Der Anteil an Elektrobussen soll steigen

Auch wenn die Dan-Verkehrsbetriebe stolz darauf sind, dass bereits 60 Prozent der Flotte die Euro-6-Norm erfüllen, so sind noch viele ältere Stinker auf den Straßen von Tel Aviv unterwegs. Elektrobusse gibt es derzeit 26, ihr Anteil soll in den nächsten fünf Jahren auf ein Viertel der Flotte gesteigert werden.

Etwas bequemer ist eine Fahrt in den Sammeltaxis, Scherut genannt. Die gelben Minivans haben ähnliche Routen wie die Busse. Sie können per Handzeichen gestoppt werden, man kann überall aussteigen. Der Fahrpreis ist ähnlich dem in Bussen, und das Kleingeld wird, möglichst abgezählt, zum Fahrer durchgereicht.

Schrittgeschwindigkeit auf den Straßen Tel Avivs

Am Schabbat, der von Sonnenuntergang am Freitag bis zum Eintritt der Dunkelheit am Samstag dauert, sind Scheruts die einzig mögliche Form der Fortbewegung in einem öffentlichen Verkehrsmittel. Denn am Schabbat stellen in ganz Israel Busse und Bahn ihren Betrieb ein. So bricht freitags an Wintertagen schon am frühen Nachmittag gegen 15.30 Uhr hektische Betriebsamkeit aus, weil viele noch den letzten Bus erwischen wollen.

Nach Sonnenuntergang ist es dann selbst im ansonsten quirligen Tel Aviv ruhig, weil sich viele in den Kreis der Familie zurückziehen. Am Schabbat ist auch die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass man sogar während des Tages mit dem Auto in Tel Aviv ohne Staus vorwärtskommt. Denn an den anderen Tagen bewegt man sich häufig nur in Schrittgeschwindigkeit. Das gilt für die Straßen in der Stadt wie auch für die, die aus ihr herausführen.

Wer in der Nacht vom 19 Kilometer entfernten Flughafen Ben Gurion mit einem Taxi nach Tel Aviv fährt, braucht rund zwanzig Minuten. Während der Stoßzeiten kann die gleiche Strecke eineinhalb Stunden und mehr an Zeit kosten. Wer die Stadtautobahn Ayalon, die Nummer 20, nutzt, steht schon ab sieben Uhr früh im Stau, selbst um Mitternacht stehen die Fahrzeuge dort häufig Stoßstange an Stoßstange.

Die vier Haltestellen der Eisenbahn finden sich ebenfalls entlang der Ayalon. 14 Millionen Passagiere pendeln jedes Jahr* von und nach Tel Aviv. Bereits im Vorjahr sollte der Schnellzug, der die rund 60 Kilometer lange Strecke zwischen Tel Aviv und Jerusalem in 28 Minuten zurücklegen wird, seine Fahrt aufnehmen. Vor Kurzem wurde der für 30. März angekündigte Starttermin erneut auf September verschoben. So nutzen weiterhin viele Menschen das Auto für die stark frequentierte Verbindung zwischen den beiden wichtigsten Städten Israels und in Tel Aviv selbst.

Rasant und nicht sehr zuvorkommend

Betrug die durchschnittliche Fahrgeschwindigkeit in Tel Aviv vor einigen Jahren noch 24 Kilometer pro Stunde, so liegt sie inzwischen bei nur noch 13 km/h - Tendenz sinkend. Zum täglichen Verkehrschaos trägt bei, dass die Anzahl der neu zugelassenen Fahrzeuge in Israel jeden Monat um 90 000 wächst und ein Großteil davon im Raum Tel Aviv unterwegs ist.

Der Fahrstil der Israelis ist generell, um es höflich auszudrücken, rasant und nicht sehr zuvorkommend. Wer die Spur wechseln will, muss sich durchsetzen. Fortbewegung im Fahrzeug ist eine Form von Nahkampferfahrung in Israel - erst recht in den Städten. Davon zeugt fast jedes Fahrzeug. Autos, auch Mietwagen, ohne Dellen, Schrammen, Kratzer oder eingedrücktes Blech sind eine Rarität.

Der Verkehr wird mit Kameras überwacht

Geparkt wird, wo gerade eine Lücke frei ist. Die Stadt Tel Aviv hat deshalb die Jagd nach Verkehrssündern verschärft. Fünf mit jeweils drei Kameras ausgestatteten Polizeifahrzeuge sind ständig in der Stadt unterwegs und dokumentieren Vergehen. Wer auf einer Bushaltestelle parkt oder eine der Buslinien benutzt, wird fotografiert und gefilmt. Die Aufnahmen werden mit einem Strafzettel über 500 Schekel, rund 117 Euro, dem Fahrzeughalter zugeschickt.

Gespeichert werden die Aufnahmen in der Bialik-Straße im zweiten Stock eines Hauses, in dem sich ansonsten nur Wohnungen befinden. Kein Schild weist darauf hin, dass hier der Kontrollraum für den gesamten Verkehr in Tel Aviv untergebracht ist. Mit 45 Kameras wird der Großraum überwacht. Rund ein Dutzend Mitarbeiter starrt konzentriert auf die zwei Bildschirme vor sich. Die Kontrolleure können sich so nah an Autos heranzoomen, dass sie die Nummernschilder deutlich erkennen.

700 Strafzettel werden pro Tag hier ausgestellt, erzählt Avraham Azoulay, der die Abteilung leitet und sich lachend als "Big Brother der Big Brothers" vorstellt. Er kann sich fast jeden Winkel der Stadt auf seinem riesigen Monitor anschauen. Und Azoulay hat seine Mitarbeiter im Blick, denen er Abschnitte zur Überwachung zuteilt, die wiederum er kontrolliert.

Auch Carsharing-Fahrzeuge von Car2go und Autotel, die es seit Kurzem in Tel Aviv gibt, dürfen die Busspuren nicht benutzen. Allerdings gibt es für sie in der Stadt extra reservierte Parkplätze, die aber häufig von anderen Autos genutzt werden. Der Parkplatzsuche und der Staus überdrüssig, steigen immer mehr aufs Fahrrad um. Es gibt auch Leihfahrräder verschiedener Anbieter in der Stadt. Elektrofahrräder boomen, und viele nutzen Gehwege genauso wie Straßen. Autofahrer in Israel überholen auch von rechts, Radfahrer schlängeln sich von allen Seiten durch Kolonnen, was nicht ungefährlich ist. Dabei ist das Tragen eines Helms nicht üblich in Tel Aviv.

Die zweitgrößte Busstation der Welt

Wer die Stadt mit einem öffentlichen Verkehrsmittel verlassen will, muss zuerst einen Ort passieren, der bei den meisten schlicht "das Monstrum" heißt. Wer sich dem nach 26 Jahren Bauzeit 1993 eröffneten zentralen Busbahnhof im Süden Tel Avivs nähert, dem erschließt sich die Bezeichnung sofort. Der riesige Betonbunker mit Wegen über sieben Kilometer und einer Fläche von rund 230 000 Quadratmetern ist die zweitgrößte Busstation der Welt und ein Labyrinth.

Während für die Benutzung der Busse in Tel Aviv keine besonderen Sicherheitskontrollen vorgesehen sind, muss man solche hier am Eingang über sich ergeben lassen. Dann folgt man den Schildern der Busunternehmen Dan und Egged - auf verschlungenen Wegen und Rolltreppen hinauf. Denn die Busse fahren im sechsten und siebten Stock ab. Es gibt rund 1600 Geschäfte, von denen rund die Hälfte leer steht. Ganze Etagen sind gesperrt, und das Erdgeschoss steht unter Naturschutz, weil sich hier Fledermäuse angesiedelt haben.

Wer an diesen Ort kommt, will nur weg. Das ist schwieriger für alle, die ankommen. Es gibt Ausgänge, aber die sind schlecht gekennzeichnet, sodass manche so verzweifelt gewesen sein sollen, dass sie wieder mit dem Bus weggefahren sind.

Die SZ berichtet in dieser Serie über den Nahverkehr in den Metropolen der Welt. Alle Folgen unter www.sueddeutsche.de/nahverkehr

*Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version hieß es, 14 Millionen pendeln jeden Tag nach Tel Aviv. Richtig ist: pro Jahr.

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