Strategien zur Verbesserung der Verkehrslage:Kontrolle des Unerwarteten

Auf 1,5 Milliarden Euro schätzen Experten die Kosten für das Verkehrsversagen in Europa.

Jack Short, Generalsekretär International Transport Forum der OECD.

Das Winterchaos auf unseren Flughäfen, Straßen und Bahnhöfen war das zweite internationale Verkehrsversagen innerhalb weniger Monate. Im April 2010 war es Vulkanasche aus Island, die den Flugverkehr lahmlegte; die Kosten dafür werden auf fünf Milliarden Euro geschätzt. Diesmal waren es Eis und Schnee, wiederum mit verheerenden Folgen. Air France-KLM schätzt die Folgekosten für Dezember auf 70 Millionen Euro, British Airways auf 50 Millionen. Die tatsächlichen Ausfälle, einschließlich der verlorenen Zeit der Reisenden, sind viel höher. Auf 1,5 Milliarden Euro setzen Experten die jährlichen Kosten für Verkehrsversagen an - 2010 waren es wohl 50 Prozent mehr.

Naturgewalten sind der natürliche Feind des Verkehrs. Ihn vollständig vor Überschwemmungen, Erdbeben oder sogar Vulkanausbrüchen zu schützen, ist unmöglich. Und es gibt andere Großbedrohungen wie Terrorismus. Der Angriff vom 11. September 2001 ebenso wie Bombenattacken auf Busse in London, Züge in Madrid oder die Moskauer Metro haben gezeigt, wie katastrophal seine Folgen sein können. Deshalb besteht die Antwort auf das Weihnachtschaos auch nicht allein in mehr Schneepflügen oder größeren Glykol-Vorräten. Die eigentliche Lehre lautet, dass wir uns noch viel systematischer mit einer weitergehenden Frage auseinandersetzen müssen: Wie bereiten wir uns besser auf das Unerwartete vor?

Druck kommt von der Nachfrage- wie von der Angebotsseite: Unsere hochmobilen, verflochtenen Gesellschaften sind immer stärker auf Transportmittel angewiesen. Seit 1970 ist die Zahl der Passagiermeilen in der Luftfahrt um das Neunfache gestiegen. Der weltweite Containerverkehr war 1970 praktisch null; heute liegt er bei einer halben Milliarde Tonnen im Jahr. Selbst Vergleichszahlen mit der Welt vor 20 Jahren sind eindrucksvoll: Seit 1990 hat der Gütertransport auf der Straße in den OECD-Ländern um 70 Prozent zugenommen, der auf der Schiene um 50 Prozent.

Die "Just in time"-Logistik hat zusätzlichen Druck gebracht. Schienen, Straßen, Häfen sind längst mobile Lagerhäuser. Wir reisen öfter, kürzer und weiter als früher; Verspätungen und Störungen schlagen direkt durch. Nutzer fordern mehr Leistung für ihr Geld - in Deutschland etwa monieren Lkw-Maut zahlende Spediteure mangelnde Verkehrsinformationen. Auf der Angebotsseite operieren Verkehrssysteme heute so dicht an der Kapazitätsgrenze, dass der kleinste Zwischenfall weitreichende Konsequenzen hat. Auf Londons Airport Heathrow starten und landen täglich rund 1300 Flugzeuge auf zwei Runways, etwa so viel wie in Paris-Charles de Gaulle auf vier Startbahnen. Die Schließung Heathrows zog sofort andere europäische Airports in Mitleidenschaft. So ist Zuverlässigkeit die große Herausforderung für den Verkehr im 21. Jahrhundert.

Es sind die Abweichungen vom Mittel, die uns meist aufregen. Politiker und Anbieter sollten erkennen, dass Nutzer sich letztlich weniger Sorgen um die Reisezeit an sich machen als um jene Unbekannten, die ihren Flieger, ihre Bahn, ihr Auto, ihren Zug aufhalten und die eigene Planung durcheinanderbringen können. Staus werden herkömmlich an der durchschnittlichen Reisedauer gemessen. Unzuverlässigkeit bezieht auch die Abweichungen von diesem Mittel ein. Und laut einer Studie des International Transport Forums können die volkswirtschaftlichen Kosten für den Zeitpuffer, den Reisende - etwa Berufspendler - einplanen müssen, höher sein als die Kosten der Reisedauer selbst.

Deshalb gehört Zuverlässigkeit in den Mittelpunkt. Auf die To-do-Liste der Politik müssen in jedem Fall vier Merkposten für eine Strategie der Zuverlässigkeit: informieren, konstruieren, managen, Preise bilden.

Der erste, wohl effizienteste Schritt: Endlich einen wirklichen Informationsfluss schaffen zwischen Betreibern, zwischen Verkehrsträgern, vom Anbieter zum Nutzer. Das Weihnachtschaos war nicht zuletzt eine Kommunikationskatastrophe. Die Schwächen in der Koordination - etwa zwischen Flughäfen und Airlines oder Behörden und Spediteuren - wurden brutal offenbar. Der Verkehrssektor ist eine ungewöhnliche Branche: Er bietet eine Standarddienstleistung für eine denkbar heterogene Kundschaft. Die Personalisierung der Massenangebote ist eine der großen Herausforderungen für Anbieter. Schlüssel dazu sind aktuelle Informationen vor, während und nach der Reise. Die Technologie ist da, aber viele Betreiber mögen ihre Daten nicht weitergeben.

Zweitens gibt es kein Entrinnen vor dem Umstand, dass moderne Verkehrssysteme teuer sind - ob es um Aufwertung der Infrastruktur, neue Dienste oder zusätzlichen Personaleinsatz in Ausnahmesituationen geht. Durchdachteres Design der Infrastruktur kann helfen. Dass modernste Eisenbahnstrecken diesen Winter solche Probleme hatten, war für viele kaum nachvollziehbar.

Drittens ist Nachfrage-Management wichtiger denn je. Angesichts der wetterbedingten Zugausfälle und des Ansturms von Flugreisenden war etwa die Deutsche Bahn gezwungen, ihren eigenen Kunden von Zugfahrten abzuraten. Eurostar musste gar sein komplettes Buchungssystem stilllegen und wurde dennoch nicht mit den Schlangen fertig. An den Flughäfen von Frankfurt und Moskau rückte Polizei an, um frustrierte Passagiere in Schach zu halten. Eine übergeordnete "Strategie für Zuverlässigkeit" muss kritische Schwachpunkte in Infrastruktur und Dienstleistungen systematisch identifizieren. Sie schafft so die Voraussetzungen, um Risiko zu managen.

Viertens: Auch Mobilitätsabgaben gehören in den Werkzeugkasten. Gebühren sind politisch sensibel. Aber sie könnten an Akzeptanz gewinnen, wenn sie weniger als Bestrafung der Autofahrer gesehen werden und mehr als eine Versicherung gegen Unzuverlässigkeit.

In vielen Ländern treffen sich dieser Tage Verkehrsminister und Vertreter des Transportsektors zur Aufarbeitung. Angesichts der Finanzlage und einer empörten Öffentlichkeit steht die Politik unter Druck, kosteneffektive Lösungen zu präsentieren. Finden wird sie sie eher, wenn sie auf die Zuverlässigkeit des Verkehrssektors insgesamt schaut als auf die Zahl der Schneepflüge. Es wird wieder einen Auslöser für Chaos geben, nur kennen wir ihn noch nicht. Dennoch sollten wir künftig besser vorbereitet sein.

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