Stauforschung:Man kennt die Schlange, aber nicht ihren Kopf

Nichts scheint so schwer, wie der Ursache eines Staus auf den Grund zu gehen. Verkehrsforscher haben nur einen Rat parat: zügig auf den Stau zufahren.

Streiflicht

Nur die wenigsten wissen, dass sie, wenn sie auf der Autobahn dahinfahren, auch wissenschaftlich arbeiten. Sie sind winzige Rädchen (metaphorisch gesprochen, das hat nichts mit der Reifengröße ihres Hobels zu tun) einer Maschine namens Nagel-Schreckenberg-Modell. Das ist keine richtige Maschine, sondern eine von den Festkörperphysikern Kai Nagel und Michael Schreckenberg vor Jahr und Tag ersonnene Computersimulation.

Die Festkörper, die sich darin tummeln, sind die Autos, und da das Modell den Zusammenhang zwischen Dichte und Fluss des Straßenverkehrs mathematisch darstellt, ist es auch in der Lage, den Stau zu erklären. Weil er, wie alle bezeugen können, aus dem Nichts kommt, hat man ihn lange für etwas Schicksalhaftes, Numinoses gehalten. Seit Nagel/Schreckenberg weiß man's besser: Staus rühren daher, dass ganz vorn einer bremst, der hinter ihm ebenfalls, nur schärfer, und so fort, bis sie im Radio sagen, dass von Würzburg-Randersacker bis Würzburg-Heidingsfeld rein gar nichts mehr geht.

Man kennt die Schlange, aber nicht ihren Kopf

Die FDP ist keine, die zu solchen Dingen schwiege, und so klopfte denn ihre Bundestagsfraktion bei der Bundesregierung auf den Busch: Was denn das koste? Wie so oft, sah die Regierung sich auch hier zu "validen Aussagen" nicht in der Lage. Sie eierte zwischen 19,6 und 102,26 Milliarden Euro herum, um dann bei einem volkswirtschaftlichen Schaden von 10 bis 12 Milliarden Euro einzulochen.

Wie das berechnet wird und wer - kein Schaden ohne Nutzen - davon profitiert, sei dahingestellt. Weitaus spannender ist die Frage, an wen die geschädigte Volkswirtschaft sich wegen allfälliger Regressansprüche wenden müsste. Rechnet man die Baustellen und Unfälle heraus, bleiben als Stauverursacher immer noch jede Menge Leute, die bremsen und so nach dem Nagel-Schreckenberg-Modell den Stau auslösen, wobei freilich nicht ganz klar ist, ob der erste Bremser der Missetäter ist oder ob man sich nicht eher an seinen Hintermann halten sollte. Schließlich ist er es, der unverhältnismäßig reagiert und damit das Ganze erst ins Rollen bringt, also zum Stehen. Die Überlegung ist müßig, weil wir an dieser Stelle wieder einmal vor einem Mysterium stehen: Seit es Autobahnen und Staus gibt, ist es noch keinem gelungen, die vordersten Bremser zu sehen. Man kennt die Schlange, nicht jedoch ihren Kopf.

Michael Schreckenberg ist in der Stauforschung noch ein gutes Stück weitergekommen. Seinen Erhebungen zufolge handeln Autofahrer albern, die sich bei Staus in die Nebenstraßen ergießen - da bleiben sie erst recht stecken. Am zügigsten komme voran, wer auf Stauwarnungen pfeife, ja voll Rohr auf Staus zufahre. Schreckenberg nennt diesen Typus den "Stoiker". Beim nächsten Stau wollen wir alle darauf achten, ob diese Autofahrer über das verfügen, was den Stoiker vor anderen auszeichnet: Gelassenheit.

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