Süddeutsche Zeitung

Stadt- und Verkehrsplanung:Platz da

Über Jahrzehnte wurden Fußgänger von Stadtplanern buchstäblich an den Rand gedrängt, nach wie vor werden Gehsteige zugeparkt. Doch einige Kommunen wollen das ändern - wie das Beispiel Leipzig zeigt.

Von Thomas Hummel

Jeder Verkehrsteilnehmer ist auch Fußgänger, sagt Friedemann Goerl. Immer mal wieder jedenfalls, und sei es auf dem Weg zur Straßenbahn oder zum Auto. Dieser Umstand ist ein großer Vorteil für den 29-Jährigen, denn damit kann er für sich beanspruchen, in seinem Job alle 580 000 Leipziger zu vertreten. Seit elf Monaten ist Friedemann Goerl Fußverkehrsverantwortlicher der Stadt und damit der erste seiner Art in Deutschland.

Goerls Pionierarbeit fällt in eine Zeit, in der Verkehrsplanung in den Städten stetig komplizierter wird. Immer mehr Menschen ziehen in die Ballungszentren, wo der Platz aber nicht wächst oder durch Nachverdichtung sogar weniger wird. Die Konflikte zwischen den Verkehrsteilnehmern nehmen zu und immer häufiger stellt sich die Frage: Für wen stellt man öffentlichen Raum zur Verfügung? Straßen und Parkplätze für Autos? Schienen und Busspuren für den öffentlichen Nahverkehr? Mehr und breitere Radwege? Und wo bleibt da eigentlich der Fußgänger? "Der fällt meist ein bisschen runter, wenn sich niemand um ihn kümmert", erklärt Goerl. Deshalb hat sich die Stadt Leipzig nach jahrelangen Debatten dazu entschlossen, Anfang 2018 die Stelle des Fußgänger-Beauftragten zu schaffen.

Seitdem läuft jede Verkehrsplanung der Stadt über den Schreibtisch des jungen Geografen. Er passt auf, Bordsteine rund um Seniorenheime abzusenken als Hilfe für alte Menschen mit Rollatoren. Er verhindert, dass Fußgänger Umwege in Kauf nehmen müssen. Goerl achtet auf Barrierefreiheit. Einmal verhinderte er, dass der Gehweg zu einem Kindergarten vergessen wurde. Er erlebe dabei in der Verwaltung keine Fronten oder Gegenspieler, sondern eher die Reaktion: "Ach, das haben wir noch gar nicht so gesehen." Der Leipziger bestätigt damit eine der Hauptaussagen der Studie "Geht doch!", in der das Umweltbundesamt, abgekürzt: UBA, kürzlich die Grundzüge einer bundesweiten Fußverkehrsstrategie festhielt. Der Fußverkehr werde nicht als gleichberechtigt wahrgenommen, steht darin. Er gelte "in Deutschland immer noch als unwichtig, unattraktiv und wenig zeitgemäß".

Auf insgesamt fast 50 Seiten legen die Fachleute des UBA dar, wieso es sich lohne, den Fußverkehr vor allem in den Städten zu stärken und wie das umsetzbar wäre. Zu Fuß gehen sei gesund, heißt es da. Es fördere den Klimaschutz, Städte würden zu "Orten der Begegnung und des sozialen Miteinanders". Auch örtliche Geschäfte profitierten von mehr Fußverkehr. Senioren seien auf sichere Gehwege angewiesen, genauso wie Kinder. Angestrebt werde, den Anteil des Fußverkehrs von durchschnittlich 27 Prozent in den Städten auf 41 Prozent zu steigern. In ländlichen Kreisen von derzeit 24 Prozent auf 35 Prozent.

Das geht allerdings nicht, ohne anderen Verkehrsteilnehmern Rechte und Räume zu kürzen. In den meisten Fällen dem Autofahrer. So schlägt das UBA vor, innerorts Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit zu verfügen, weil zu viele Fußgänger Opfer von Unfällen werden. Ampeln sollen so lange Grünphasen haben, dass alle ausreichend Zeit für die Querung der Kreuzung erhalten. Verkehrsplaner sollten von außen nach innen denken, also zuerst die Bedürfnisse der Fußgänger beachten, die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen empfiehlt eine Gehwegbreite von mindestens 2,5 Meter. Außerdem soll der Raum für Parkplätze verringert werden: Von derzeit etwa 4,5 Quadratmeter pro Einwohner auf drei Quadratmeter, perspektivisch sogar auf 1,5 Quadratmeter.

"Die Studie hätte auch von uns sein können", sagt Roland Stimpel. Er ist Sprecher des Lobbyverbands Fuss e.V. und freut sich "außerordentlich, dass sich eine Bundesbehörde soweit aus dem Fenster lehnt". Denn für ihn sei der Zustand des Fußverkehrs im Land nach wie vor schlecht.

Stimpels Verband kritisiert, dass die Straßenverkehrsordnung von dem Geist getragen werde, der Sinn des Verkehrs sei die effiziente Abwicklung des Autoverkehrs. "Die anderen Teilnehmer sind nebensächlich und haben vor allem die Aufgabe, die Straße schnell zu verlassen", beklagt er. Die Fußgänger-Vertreter fordern ein höheres Bußgeld, wenn Radfahrer auf Gehwegen fahren oder Autos dort parken. In Frankreich etwa koste das pauschal 135 Euro, weiß Stimpel. Doch in Deutschland seien weder der Bund noch die meisten Kommunen bereit, die Verkehrspolitik entsprechend zu ändern. "Es gibt selbst Oberbürgermeister der Grünen, die uns sagen: Der Parkdruck ist so hoch, dass wir weiterhin ein Auge zudrücken und es zulassen, dass Autos den Gehweg zuparken, obwohl es verboten ist", erzählt er.

Wenn eine Kommune sich dennoch mal traut, Plätze und Straßen im Sinne der Fußgänger umzugestalten, droht mitunter heftiger Gegenwind. In Hannover beispielsweise war ein Gehweg, den viele Schulkinder nutzen, ständig von Autos zugeparkt. Als die Verwaltung Poller aufstellte, um das illegale Parken zu unterbinden, brodelte es zuletzt bei einer Sitzung des Bezirksrats: Zahlreiche Anwohner und Geschäftsleute beschwerten sich, es gebe nun zu wenig Parkraum für ihre Autos im Viertel. "So hart sind die Konflikte", sagt Stimpel, "der Verteilungskampf bricht aus." Er sehe aber, dass sich in den Innenstädten die Stimmung allmählich drehe. Die Bewohner dort seien mittlerweile weniger Auto-affin als früher.

Im Verkehrsministerium stehen sie neuen Ansätzen eher skeptisch gegenüber

Doch was sagt das traditionell eher autonahe Bundesverkehrsministerium zu den forschen Plänen des UBA? Auf Nachfrage der SZ erklärt das Haus von Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU), der Fußverkehr habe eine "hohe Priorität", künftig werde es ein Referat mit dem Schwerpunkt Radverkehr und Fußverkehr geben. Die konkreten Anregungen allerdings stoßen auf Skepsis.

Die Regelgeschwindigkeit innerorts auf Tempo 30 zu senken, sei "nicht sinnvoll", finden die Beamten, der Geschwindigkeitsvorteil auf Hauptstraßen sei wichtig. Die Bußgelder würden zwar demnächst geprüft, ob es dabei zu einer Änderung komme, müsse allerdings abgewartet werden. Und der wohl explosivsten Forderung des Umweltbundesamts weicht das Verkehrsministerium mehr oder weniger aus: Soll der Parkraum für Autos reduziert werden? Die Antwort aus dem Ministerium: "Ziel ist es, für alle Verkehrsmittel - einschließlich Fußgänger - gleichermaßen einen bestmöglichen Rahmen zu schaffen."

In Leipzig geht derweil der Umbau weiter. Wenngleich langsamer als von einigen erhofft. Der Stadtteil Lindenau zum Beispiel ächzt unter dem Zustrom neuer Bewohner; am zentralen Verkehrsknotenpunkt, dem Lindenauer Markt, fand deshalb eine Zählung statt: Den nördlichen Bereich passierten in einer Stunde 1300 Fußgänger, 215 Radfahrer sowie 277 Autos. Dominiert wird der Platz aber nach wie vor von der Fahrbahn für die Autos. Der Stadtrat beschloss deshalb eine Umgestaltung, an dessen Ende der Autoverkehr auf Teilen ganz ausgeschlossen wird.

"Die Konflikte sind natürlich da", berichtet der Fußverkehrs-Verantwortliche Friedemann Goerl. Aber wenn die Stadt dann das Straßenbild ändere, wenn Arbeiter Bäume pflanzten und so einen öffentlichen Raum schafften, wo Menschen gerne zu Fuß gehen und sich aufhalten, "dann stellt sich die Akzeptanz schnell ein".

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Quelle:
SZ vom 15.12.2018/cat
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