Süddeutsche Zeitung

Stadt ohne Verkehrszeichen:Kahlschlag im Schilderwald

Gemeinsam statt gegeneinander: In der Kleinstadt Bohmte läuft der Verkehr seit vier Jahren auf einer Fläche. Das Prinzip: Wenn niemand so recht weiß, wer Vorfahrt hat, fahren automatisch alle vorsichtiger.

Von Steve Przybilla

Keine Ampeln, keine Verkehrsschilder, keine abgetrennten Bordsteine: Kann so etwas gut gehen, zumal auf einer Hauptstraße? In der niedersächsischen Kleinstadt Bohmte bei Osnabrück glaubt man daran. Die viel befahrene L81, die mitten durch den Ort verläuft, sieht auf 400 Meter Länge geradezu jungfräulich aus. Fahrbahn, Radweg, Bürgersteig - alles eine ebene Fläche. Wenn niemand so recht weiß, wer Vorfahrt hat, fahren automatisch alle vorsichtiger. Das ist die Hoffnung, die mit radikal entschlackten Straßen verbunden wird. Der niederländische Verkehrswissenschaftler Hans Monderman nannte diese schilderlosen Straßen "Shared Space", weil jeder Verkehrsteilnehmer die Straße gleichberechtigt nutzen kann. In seinem Heimatland hat sich das Konzept vielerorts durchgesetzt, während die Idee in Deutschland ein Schattendasein fristet.

Nicht so in Bohmte. Hier wurde vor vier Jahren der Bürgersteig eingeebnet und der Schilderwald gelichtet. Die 13 500-Seelen-Gemeinde nahm als erste deutsche Stadt am Shared-Space-Projekt teil. "Der Verkehrsfluss hat sich verbessert, es gibt überhaupt keinen Stau mehr", fasst Bohmtes Erste Gemeinderätin Sabine de Buhr-Deichsel die Erfahrungen zusammen. Sie zeigt Fotos, auf denen die L81 vor der Umgestaltung zu sehen ist: Dicht an dicht drängen sich Autos und Lkw im Berufsverkehr, ausgebremst durch mehrere Ampeln. "Die Leute haben unter Lärm und Abgasen gelitten. Das hatte mit Aufenthaltsqualität nichts mehr zu tun." Heute durchquerten zwar immer noch bis zu 12 600 Fahrzeuge täglich die Stadt, blieben aber nicht mehr im Stau stecken: "Das ist schon ein großer Fortschritt, auch wenn auf einer solch befahrenen Straße natürlich nie paradiesische Zustände herrschen werden."

Hupe statt Schild

Und was ist aus der gegenseitigen Rücksichtnahme geworden? "Gehen Sie doch als Fußgänger mal fünf Minuten die Straße entlang, dann merken Sie's selbst", ruft ein Anwohner, der an der Hauptstraße auf den Bus wartet. Was er von Shared Space hält, will er dann aber doch nicht für sich behalten: "Eine teure Luftnummer, sonst nichts". 2,35 Millionen Euro hat der Umbau gekostet, die EU hat 576.000 Euro beigesteuert. Der Verkehr fließt tatsächlich ohne Behinderung - allerdings nicht ganz so, wie sich das die Planer vorgestellt haben. Statt vorsichtig zu fahren, rauschen die Autos mit normaler Geschwindigkeit über die Straße. Am Kreisverkehr wird ein Fußgänger prompt angehupt - in den Augen der Autofahrer war er wohl zu weit auf die vermeintliche Fahrbahn geraten.

"An dieser Straße liegt auch direkt unser Kindergarten. Wenn es da gefährlich wäre, hätte es längst einen Aufstand gegeben", beteuert Sabine de Buhr-Deichsel. Doch gesunken sind die Unfallzahlen nicht - im Gegenteil. Kam es vor der Umgestaltung im Jahre 2007 noch zu acht Unfällen im besagten Abschnitt, waren es ein Jahr später 13. Den reinen Blick in die Statistik empfindet de Buhr-Deichsel aber als wenig aussagekräftig: "Es gab eine neue Straßenlaterne, die beim Rückwärtsfahren ständig umgefahren wurde. Die haben wir inzwischen versetzt." Dabei sind die reinen Unfallzahlen nicht die einzige Sache, über die sich Versicherungen den Kopf zerbrechen: Was passiert zum Beispiel, wenn es im Rondell in Bohmte kracht? Da kein Verkehrsschild einen Kreisverkehr ausweist, müsste eigentlich "rechts vor links" gelten - oder doch nicht? "Darüber sind sich bei uns selbst die Fahrlehrer und die Polizei nicht einig", räumt Bohmtes Bürgermeister Klaus Goedejohann ein.

Der ökologisch ausgerichtete Verkehrsclub Deutschland (VCD) plädiert für mehr Modellprojekte, während der autofreundliche ADAC in Shared Space "kein Allheilmittel" erkennt. Für Kinder, Senioren und behinderte Menschen sei es am schwierigsten, sich gegenüber den motorisierten Verkehrsteilnehmern durchzusetzen. Noch schlechter ergeht es offenbar Radfahrern. Sie kommen laut einer ADAC-Umfrage am wenigsten mit der gemeinsam genutzten Fahrbahn klar. Der Gesamtverband der Deutschen Versicherer (GDV) sieht in Shared Space daher allenfalls eine "Nischenlösung", deren Wirksamkeit sich erst noch beweisen müsse - eben weil belastbare Untersuchungen fehlen.

Sicherheit durch Unsicherheit

Wolfgang Bode, Professor für Transport und Verkehr an der Hochschule Osnabrück, hat die Bohmter immerhin nach ihren Erfahrungen mit Shared Space befragt. In einer repräsentativen Zufriedenheitsanalyse kommt er zu dem Schluss, dass die Mehrheit der Befragten mit der schilderlosen Straße glücklich ist. "Das Ziel, Sicherheit durch Unsicherheit zu erreichen, wurde erfüllt", sagt Bode. Dennoch spricht auch er sich dafür aus, gerade die schwachen und verwundbaren Verkehrsteilnehmer besser in die Planungen einzubeziehen. Dass die Autos in Bohmte auf der gemeinsam genutzten Fahrbahn kaum noch abbremsen, führt der Verkehrswissenschaftler auf den Gewohnheitseffekt zurück: "Da hilft es nur, immer mal wieder etwas an der Optik zu verändern, zum Beispiel die Farben oder die Linienführung auf dem Boden."

Wie es besser gehen kann, will die 11 000-Einwohner-Gemeinde Rudersberg (Rems-Murr-Kreis) vormachen. "Wir können aus Bohmte lernen", sagt deren Bürgermeister Martin Kaufmann. Der Politiker leitet die "Interkommunale Initiative für stadtverträgliche Straßenräume" (ISS), in der sich sieben baden-württembergische Städte zusammengeschlossen haben. Um die Umsetzung der reinen Lehre geht es dem Verband nicht: "Shared Space heißt doch nicht, dass plötzlich alle Ampeln und Schilder verboten sind", sagt Kaufmann. So werde es auch in Rudersberg nach der Umgestaltung noch einen - wenn auch kleinen - Bordstein geben. Damit könnte Rudersberg einen neuen Anstoß für mehr Shared Space im Ländle geben. Eigentlich. Denn selbst Befürworter Kaufmann hegt Zweifel, ob das bei den ordnungsliebenden Deutschen so gut ankommt: "Der Umbau ist bei uns noch nicht fertig, da fordert das Landratsamt schon einen neuen Zebrastreifen."

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SZ vom 16.02.2013/goro
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