Süddeutsche Zeitung

Smart Cities:Diese Ideen können unsere Städte lebenswerter machen

Lesezeit: 8 min

Transport, Luftqualität und Energieverbrauch sind Probleme für überfüllte Ballungsräume. Die Digitalisierung soll sie lösen. Doch nicht alle Ansätze führen zum Erfolg.

Von Joachim Becker

Wirklich smart sind autogerechte Städte nicht. Staus und überlastete Zentren halten 80 Prozent der Befragten für die größten Probleme. Das zeigt eine neue Allensbach-Umfrage im Auftrag von Acatech (Deutsche Akademie der Technikwissenschaften). Laut der Studie liegen Luftverschmutzung und Lärm mit jeweils über 60 Prozent auf den weiteren Plätzen. Geteilter Meinung sind die Befragten, wie die Verkehrsprobleme zu lösen sind. 46 Prozent fordern ein systematisches Umdenken im Verkehrssektor; 43 Prozent halten Korrekturen in einzelnen Bereichen für ausreichend.

Wie sind die Deutschen am liebsten unterwegs - und wie sollte sich die Mobilität in der Stadt verändern? In der Allensbach-Umfrage geben drei Viertel der Befragten an, dass sie kostengünstiger, unabhängiger und flexibler ans Ziel kommen wollen. Internet-Plattformen wie Uber wollen genau das bieten: Die verschiedenen Verkehrsmittel über eine App, ein Ticket und ein Abrechnungssystem kundenfreundlich koordinieren. Bisher wehren sich viele Länder in Europa gegen einen solchen Monopolisten. Mit seinen schier unerschöpflichen finanziellen Mitteln könnte er die Mobilität in den Städten allerdings schneller und radikaler ändern als die dauerklammen Kommunen.

Digitaler Rufbus

Günstiger als Taxis, schneller und komfortabler als öffentliche Verkehrsmittel und nachhaltiger sowie Platz sparender als private Pkw: Kleinbusse und Sammeltaxis sind überall auf der Welt eine wichtige Ergänzung zum öffentlichen Nahverkehr. Statt fester Fahrpläne und Taktzeiten gilt das Prinzip der individuellen Nachfrage: Die 200 Moia-Shuttles, die seit April in Hamburg unterwegs sind, lassen sich mit einem Druck auf die Smartphone-App herbeirufen. "Wir wollen für Verkehrsprobleme wie Staus, Luftverschmutzung, Lärm und Platzmangel eine Lösung anbieten und damit den Städten dabei helfen, ihre Nachhaltigkeitsziele zu erreichen", sagt Moia-Chef Ole Harms.

Die Frage ist, ob und wie diese "Mobilität auf Bestellung" zum Geschäftsmodell wird. Selbst Carsharing-Anbieter verdienen bisher kaum Geld. Klar ist, dass die Menschen ohne lange Wartezeiten und lästige Parkplatzsuche in Städten mobil bleiben wollen. Dafür werden nicht nur Algorithmen gebraucht, die in Sekundenschnelle maßgeschneiderte Fahrpläne entlang der gewünschten Routen erstellen. Letztlich geht es um autonome Fahrzeuge, die günstiger als Taxis mit Fahrer sind und keine Parkplätze in der Innenstadt benötigen. Zumindest in der Theorie.

In der Praxis sind viele Fragen offen. Absehbar ist allerdings, dass der Börsengang des US-Fahrdienstvermittlers Uber einen Tech-Giganten mit Millionen von Fahrern in 700 Städten und einem Marktwert von knapp 100 Milliarden Euro schaffen könnte. Wenn die Amerikaner ihr Ziel erreichen, "den Transport auf dem ganzen Planeten zu revolutionieren", können nur wenige Wettbewerber aus China wie Didi Chuxing mithalten. Wie bei jeder Plattform-Ökonomie stellen sich dann auch bei Smart-City-Anwendungen zwei zentrale Fragen: Wer hat die Kontrolle und wem gehören die Daten in der total vernetzten Stadt?

City-Maut für die Luftqualität

Eine Metropole wie keine andere - mit Smogwerten, die sonst nur aus Peking oder den Entwicklungsländern bekannt sind: London ist nicht nur eine der lebendigsten, sondern auch eine der dreckigsten Städte Europas. Offiziellen Angaben zufolge leben dort rund acht Millionen Menschen in Gebieten, deren Feinstaubbelastung die Grenzwerte der Weltgesundheitsorganisation (WHO) deutlich übersteigt. Im Kampf gegen die schmutzige Stadtluft bittet die englische Hauptstadt nun energisch zur Kasse: Der Transportsektor ist für rund die Hälfte der Luftverschmutzung verantwortlich, Dieselfahrzeuge haben daran einen Anteil von 40 Prozent. Doch sie sind beileibe nicht die einzigen Dreckschleudern.

Anfang April hat die Stadt eine "Ultra Low Emission Zone (ULEZ)" mit neuen Abgasgrenzwerten eingeführt. Grüne Schilder weisen darauf hin, dass in der Innenstadt eine Umweltmaut von umgerechnet rund 14,50 Euro pro Tag für deutlich mehr Fahrzeuge erhoben wird. Die Strafabgabe trifft Fahrer von Dieselmodellen, die nicht die Abgasnorm Euro 6 erfüllen, Benziner bis einschließlich Euro 3 sind ebenfalls mautpflichtig. In einer zweiten Phase soll die Umweltzone ab Oktober 2021 auf den Großraum London ausgeweitet werden, der 18 Mal größer ist als die Innenstadt. Dann soll die Umweltgebühr täglich rund 100 000 Pkw, 35 000 Transporter und 3000 Lkw treffen. Londons Bürgermeister Sadiq Khan, der die Luftverschmutzung wiederholt als "nationale Gesundheitskrise" bezeichnet hat, will damit Tausende frühzeitiger Todesfälle durch schlechte Luft vermeiden.

London ist Europas Vorreiter für Straßennutzungsgebühren in der Stadt. Die emissionsabhängige City-Maut ist der Versuch, die Blechflut marktwirtschaftlich und umweltpolitisch in den Griff zu kriegen. Mit kamerabewehrten Maut-Terminals kontrolliert Englands Hauptstadt eine der strengsten Umweltzonen weltweit. Auch Singapur sah vor 15 Jahren keine andere Möglichkeit mehr, als das Autofahren gezielt zu verteuern. "Zwölf Prozent der Fläche von Singapur werden schon jetzt für Straßen und ihre Infrastruktur genutzt, und mit 14 Prozent kaum mehr für Wohnungen. "Mehr Straßen können wir nicht bauen", sagt Wee Shann Lam, Direktor für Technologie und Industrie-Entwicklung der Land Transport Authority (LTA). Der asiatische Stadtstaat steuert seinen Verkehr mittels Electronic Road Pricing (ERP). Bei dem elektronischen Mautsystem wird vollautomatisch bezahlt. Der Betrag variiert je nach Uhrzeit: Zur Rush-hour sind die Preise so hoch, dass viele Autofahrer dankend auf den gut getakteten öffentlichen Nahverkehr umsteigen.

Wimmelbild mit Robotern

Innenstädte voller Lieferautos, genervte Kunden und Paketdienste kurz vor der Pleite: Das rasante Wachstum des Onlinehandels setzt Expresszusteller unter Zugzwang. Bis 2021 soll die Zahl der jährlich ausgelieferten Päckchen allein in Deutschland die Vier-Milliarden-Marke übersteigen. Unwahrscheinlich, dass künftig Schwärme von Transportdrohnen den Himmel über den Metropolen verdunkeln. Wahrscheinlicher (weil günstiger) sind straßengebundene Logistiklösungen. Online-Versandhändler experimentieren genauso mit dem automatisierten Lieferverkehr wie Kurier-, Express- und Paketdienste sowie viele Technik-Zulieferer. Geld für die Entwicklung von autonomen Systemen ist jedenfalls genug vorhanden.

Wie wäre es zum Beispiel mit kleinen, autonomen Lieferrobotern? Seit Anfang des Jahres testet Amazon sechs Kühlbox-große Wägelchen in der Metropolregion Seattle im US-Bundesstaat Washington. Vor dem Haus des jeweiligen Bestellers bleiben die Mini-Packstationen stehen, bis die Abholer ihre Ware zum Beispiel mit Hilfe eines einmal gültigen, digitalen Smartphone-Schlüssels entnommen haben. Hübsch anzusehen ist es zweifellos, wenn die sechsrädrigen Baby-Lkw in Schrittgeschwindigkeit durch eine adrette, amerikanische Vorstadt zuckeln. Doch wie sollen sie sich ohne Konflikte mit dem (nicht immer kooperativen) Straßenverkehr und den Fußgängern schnell und sicher bewegen?

Gut ausgebaute und aufgeräumte Bürgersteige gibt es nur wenige in den autogerechten Vorstädten der USA. In Europas Ballungszentren sind die zahlreichen Fußwege dagegen meistens verstopft. Momentan drängt mit den E-Rollern die nächste Welle von Mobilitätsalternativen auf die Trottoirs. Wo Fußgänger zu Hürdenläufern werden, haben kleine Roboter keine große Zukunft - zumindest diesseits von Science-Fiction-Filmen. Hilfreicher könnten teilautonome Lieferwagen sein, die dem Paketboten von Haus zu Haus folgen und dabei selbständig sichere Parkplätze suchen. Eine zügige Serieneinführung wäre möglich, weil die menschlichen Fahrer kniffelige Situationen durch manuelle Eingriffe lösen könnten.

"Vision Zero" - kaum ein Ziel ist so schwierig zu erreichen wie null Verkehrstote. Gefährdet sind vor allem Fußgänger und Zweiradfahrer in der dunklen Jahreszeit. Nach Zahlen des amerikanischen Verkehrsministeriums ereignen sich in den USA 51 Prozent aller Unfälle mit Verletzten sowie 28 Prozent aller Unfälle mit Verkehrstoten an Kreuzungen. Wenn Menschen oder Fahrzeuge beim Abbiegen übersehen werden, heißt es in der Regel: menschliches Versagen. Doch das ist leicht gesagt, wenn entgegenkommende Fahrzeuge lange verdeckt bleiben oder Passanten wie aus dem Nichts vor der Motorhaube auftauchen.

Forschungen der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) zeigen, dass vollautomatisierte Fahrzeuge ein großes Potenzial zur Unfallvermeidung in urbanen Umgebungen haben: Bei einer 50-prozentigen Marktdurchdringung von Robotaxis sinke das Risiko von Unfällen mit Personenschäden auf deutschen Straßen innerhalb von Ortschaften voraussichtlich um 26 Prozent. Dies entspricht mehr als 50 000 Unfällen mit Toten oder Verletzten. Nach den heftigen Diskussionen um Dieselfahrverbote wird aber kaum jemand glauben, dass die deutsche Bestandsflotte von mehr als 50 Millionen Pkw aus den Städten ausgesperrt werden könnte. Deshalb verfolgt ein Pilotprojekt im kalifornischen Städtchen Walnut Creek eine andere Strategie.

Der Automobilzulieferer Continental hat dort eine Ampel mit Sensoren und Datenfunk ausgerüstet: Tausende von Unfällen ließen sich allein in den USA vermeiden, wenn nicht nur moderne Autos, sondern auch Kreuzungen ihr Umfeld erkennen könnten. "Solche Hard- und Softwarelösungen für Notbremssysteme können für Infrastrukturanwendungen weiterentwickelt werden", sagt Sicherheitsexperte Jeremy McClain von Continental in Nordamerika. Damit Passanten beim Abbiegen nicht unter die Räder kommen, schlägt das System in Echtzeit Alarm: Im Cockpit leuchtet ein großes Warnsignal auf, wenn Fußgänger außerhalb des Sichtbereichs die Straße queren oder von anderen Fahrzeugen verdeckt werden.

Die smarte Infrastruktur im Internet der Dinge ist ein sicherer Kandidat für die Zukunft. Daran glaubt auch das Europa-Parlament. Im April haben die Abgeordneten einen Rechtsakt für C-ITS ("Cooperative Intelligent Transport Systems") auf den Weg gebracht. Noch gibt es Streit um die richtige technische Lösung bei der Adhoc-Vernetzung von Autos und anderen Objekten. Wichtig wäre ein schnelles, möglichst großflächiges Ausrollen der unfallvermeidenden Systeme. Mittelfristig könnten Ampeln nicht nur ihren Signaltakt und Warnmeldungen ins Auto funken. Die schlaue Infrastruktur wäre auch in der Lage, aktiv einzugreifen und die Bremsen eines Fahrzeugs auf Kollisionskurs fernzusteuern. Vorausgesetzt, es handelt sich nicht um einen Oldtimer ohne Datenfunk.

Grüne (Fahrrad-) Welle

Autos beanspruchen im Schnitt 200 Quadratmeter Verkehrsfläche für das Fahren und Parken - zehnmal so viel wie Zweiräder. Wo der Platz knapp wird, müssen Einspurfahrzeuge Vorrang erhalten. Wirklich neu ist diese Einsicht nicht. Schon vor zehn Jahren tourte Niels Tørsløv - damals Verkehrsdirektor von Kopenhagen und heute zuständig für das gesamte dänische Straßennetz - mit seiner Idee "City of cyclists" durch die Welt. Bis 2015 sollte die Hälfte aller Wege zum Arbeitsplatz per Fahrrad absolviert werden. Heute fahren in Dänemarks Hauptstadt 62 Prozent der Menschen mit dem Rad zur Arbeit. Insgesamt werden dort 43 Prozent aller Fahrten per Tretantrieb erledigt, in Berlin sind es lediglich 13 Prozent.

Alternativen zum Auto sollen nicht nur die Anwohner von Lärm und Abgasen entlasten. Sie müssen im innerstädtischen Verkehrsgewühl auch klare Vorteile bringen. Zum Beispiel in Form einer grünen Welle für Radwege. Intelligent geschaltete Ampeln sollen die Wartezeiten für Radler auf maximal 30 Sekunden pro Kilometer reduzieren. Gerade für Pendler bieten sich zudem Radschnellwege für bis zu 30 Stundenkilometer an. Der politische Wille muss allerdings stark sein, um die Standardbreite von drei Metern für einspurige und vier Metern für zweispurige Radschnellverbindungen (RSV) mitten durch die Stadt zu fräsen. Dabei sind nicht nur die Parkplätze am Straßenrand, sondern mitunter auch ein Kanal oder eine Bahnstrecke im Weg. In Kopenhagen wurden die Trassen dafür aufgeständert oder Brücken gebaut.

Mit ein bis zwei größeren Ingenieurbauwerken rechnen die Experten des dänischen Unternehmens Ramboll pro Radschnellweg. Sie haben in den vergangenen 40 Jahren jeden zweiten Radweg in Kopenhagen geplant. Jetzt sollen sie sechs von insgesamt zehn neuen Radschnellverbindungen in Berlin entwickeln. Auf mehreren Straßen und Brücken sind in Kopenhagen 30 000 bis 50 000 Radfahrer pro Tag unterwegs. In Berlin erreicht bislang nur der Autoverkehr solche Zahlen. Die Stadt mit den derzeit größten Wachstumsschmerzen der Republik plant nun 150 RSV-Kilometer. Ob dann auch die Politikprominenz aufs Rad umsteigt?

Dezentrale Energieversorgung

Smart Cities sind der Versuch, die (bestehende) Infrastruktur neu zu vernetzen. Das gilt nicht nur für den Straßenverkehr, sondern auch für Immobilien. Denn bei Wohn- und Geschäftsgebäuden ist die Energiewende gar nicht so einfach: Hohe Strompreise und niedrige Einspeisevergütungen für Fotovoltaik sind Rahmenbedingungen des kniffeligen Puzzles. Batterien und Wärmepumpen können Bausteine einer nachhaltigen Versorgung mit Energie und Wärme sein. Noch gibt es wenig Standardlösungen, weil weitere Technologien auf ihre Chance warten. Für die schnelle Speicherung und spätere Einspeisung der selbstgemachten elektrischen Energie kommen zum Beispiel auch Wasserstoff und Brennstoffzellen in Betracht. Zwar fehlen noch breite Erfahrungen mit den hocheffizienten Energiewandlern im Haus. Im Mobilitätssektor laufen die Forschungen und Vorbereitungen für das Wasserstoffzeitalter dagegen schon seit Jahrzehnten.

Davon profitieren neue Plusenergie-Quartiere, die Strom und Wärme selbst erzeugen: Im Berliner Future Living werden insgesamt 24 Wärmepumpen in den Gebäuden miteinander vernetzt. So kann, abgestimmt auf das Gesamtsystem, jede Wärmepumpe optimal betrieben werden. Mit dem auf den Dächern erzeugten Solarstrom werden fünf E-Ladestellen des lokalen Car-Sharing-Angebots versorgt. Herzstück des neuen, klimaneutralen Quartiers Lok.West in Esslingen ist eine Energiezentrale mit Elektrolyseur. Ab 2022 soll er den überschüssigen Strom aus erneuerbarer Erzeugung (lokal und überregional) in Wasserstoff umwandeln. Durch Rückverstromung in Brennstoffzellen kann bei Bedarf zusätzliche Energie bereitgestellt werden.

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Quelle:
SZ vom 09.05.2019
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