Zürich gilt als vorbildlich, wenn es um den öffentlichen Nahverkehr geht. Der ist dort so gut ausgebaut, dass etwa ein Drittel des gesamten städtischen Verkehrs mit Bussen oder Straßenbahnen absolviert wird. Beim Radverkehr hat die 400 000-Einwohner-Stadt im Norden der Schweiz dagegen Nachholbedarf. Kaum ein Zürcher steigt auf das Fahrrad - was kein Wunder ist, wenn der ÖPNV so attraktiv ist. Und wenn sich Radfahrer nicht sicher fühlen.
Als eine der größten Gefahrenquellen empfinden die Zürcher jene Abschnitte, auf denen sie den Gleisen der Straßenbahn zu nahe kommen. Orte wie den rund um die Haltestelle Schwert im Stadtteil Höngg, gelegen im Nordwesten der Stadt.
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Ein Problem, das viele Radler kennen
In eine Richtung ist die Straße ein wenig abschüssig, sodass Fahrradfahrer hohe Geschwindigkeiten erreichen. Sie ist außerdem recht eng, und die Bordsteinkanten der Haltestelle ragen etwa 30 Zentimeter hoch. Um beim Tritt in die Pedale dort nicht aufzusetzen, fahren viele Radler etwas versetzt Richtung Straßenmitte. Dort verlaufen jedoch die Straßenbahnschienen. Die Reifen eines Fahrrads können hier leicht in den Spalt zwischen Gleis und Asphalt geraten und verkanten. Ein Sturz ist dann schwer vermeidbar.
Zwar zeigt die Unfallstatistik keine Signifikanz; einer aktuellen Studie der Unfallforscher der Versicherer (UDV) zufolge sind etwa drei Viertel der bei Straßenbahnunfällen Getöteten Fußgänger - und nur 16 Prozent Radfahrer. Bei den Schwerverletzten sind es 15 Prozent. Straßenbahnschienen seien für Radler dennoch ein Problem, wenn auch ein schwer zu fassendes, sagt der Radfahrerverband ADFC und verweist auf die vielen Stürze, die nicht gemeldet würden und zu einer hohen Dunkelziffer führten. Tatsächlich wissen die meisten Radfahrer, die sich vornehmlich durch größere Städte bewegen, von Stürzen oder zumindest heiklen Situationen zu berichten. Allerdings wird das Problem nirgends konsequent angegangen. Nicht in Berlin, nicht in München, auch nicht in Köln. Nur Zürich in der Schweiz hat versucht, seine Schienen für Radfahrer sicherer zu machen.
Ernüchternde Ergebnisse
Bereits mehrfach haben die Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) versucht, das Problem zu lösen - wenn auch nur auf einem 90 Meter langen Teilstück rund um die Haltestelle Schwert. Bei einer ersten Maßnahme 2007 waren die damals verwendeten Rillenschienen, bei denen der Spurkranz in der Mitte positioniert ist, das Problem. Vor allem Rennradfahrer konnten mit ihren schmalen Reifen leicht in die Rille hineingeraten. Deshalb wurde sie mit verschiedenen Kunststoffen ausgefüllt, die sich, sobald eine Tram darüber fuhr, zusammenknautschten und danach wieder in ihre ursprüngliche Form zurückfanden. Schon nach kurzer Zeit brachen die Schweizer den Versuch ab: "Das Material hat sich schnell verkrümelt, die Fetzen lagen dann im ganzen Straßenraum herum", sagt Andreas Uhl, Sprecher der VBZ.
Im August 2013 dann ein neuer Versuch. Diesmal tauschten die Zürcher die gesamte Schiene aus, die Rillenschienen mussten normalen Eisenbahnschienen weichen. Hier ist der Hohlraum zwischen Gleis und Asphalt der Gefahrenherd und wird mit einem Kunststoffmaterial gefüllt. Wieder gilt das Prinzip: Die Straßenbahnen drücken es aufgrund ihres Gewichtes nach unten, die Radfahrer rollen einfach darüber. Erste Tests der Presse und des Interessenverbandes Pro Velo Zürich verliefen positiv, aber wieder hielt das Material nicht durch.
Eigentlich sollte dieser Test bis hinein ins Frühjahr 2014 ausgedehnt werden, um die Konstruktion in drei verschiedenen Jahreszeiten auszuprobieren. Doch schon nach wenigen Monaten war Schluss. Abermals bröckelte das Material, außerdem wanderte es beim intensiven Züricher Tramverkehr aus den Gefahrenbereichen heraus. "Wir mussten das Material täglich wieder positionieren oder austauschen", sagt VBZ-Sprecher Uhl. "Wir haben schnell erkannt, dass es grundsätzlich funktioniert, aber in dieser Form nicht praxistauglich ist." Dass es Mehrkosten von gut 15 Prozent beim Gleisbau verursachte - 415 000 Franken, nach heutigem Umrechnungskurs etwa 380 000 Euro -, kam erschwerend hinzu.
Doch Uhl, die VBZ und die Stadt Zürich lassen sich nicht entmutigen. Zwar ist derzeit kein konkretes Projekt geplant, aber die Verantwortlichen suchen weiter nach Alternativen zu den bisherigen "Megaflops" (Uhl). Diesmal soll es aber ein System sein, das zuvor intensiver als bislang getestet wurde: "Wir sagen den Anbietern aus der Industrie: 'Macht mal 10 000 Quetschbewegungen im Labor und dann schauen wir, ob das Profil noch da ist'", fordert der VBZ-Sprecher. Könne ein Hersteller das nachweisen, seien die Verkehrsbetriebe gerne bereit, einen neuen Praxistest zu starten. Zürich biete mit seinen vielen Querungen gute Bedingungen, um neue Technologien auszuprobieren und den Rest der Welt darauf aufmerksam zu machen. "Und der Weltmarkt ist groß", sagt Uhl.
Radler brauchen eigene Unfallvermeidungsstrategien
Doch offensichtlich muss es erst die perfekte Technologie geben, bis sich auch andere Städte bemühen, Tramgleise für Radfahrer sicherer zu machen. "Mir ist nicht bekannt, dass seitdem jemand einen besseren Versuch gemacht hat als die Zürcher", sagt Petra Reetz, Sprecherin der Berliner Verkehrsbetriebe BVG. Auch dem ADFC ist bislang keine praktikable Methode bekannt, die das Problem löst.
Als der Schweizer Versuch die Runde machte, gab es auch in Berlin zarte Versuche aus der Politik, das Thema anzugehen. Der heutige Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) regte in seiner Zeit als Stadtentwicklungssenator einen eigenen Modellversuch an. Doch daraus wurde nichts - zu teuer. "Wir reden hier von Milliarden", sagt Reetz. Und zwar deshalb, weil nicht nur das Material aufgefüllt werden, sondern die Schiene ausgetauscht werden müsste. Das lohne sich Reetz zufolge nur, wenn Gleise neu gebaut würden. "Aber hier streben wir stets eigene Trassen an, die von der Straße getrennt verlaufen. Da hat ein anderes Fahrzeug sowieso nichts zu suchen."
Dennoch bleiben auf absehbare Zeit noch zahlreiche neuralgische Abschnitte übrig. Nicht nur in Berlin, wo es Reetz zufolge um einige Hundert Meter geht, sondern auch in anderen Städten. So ist es an solchen Orten weiterhin an den Radfahrern selbst, effiziente Unfallvermeidungsstrategien anzuwenden. Einen Tipp hat ein routinierter Radler, der fast täglich über Münchens Maximiliansstraße fährt. Sobald er ein in zweiter Reihe parkendes Auto vor sich sieht (was dort überproportional oft vorkommt), das ihn zum Ausweichen über die Straßenbahnschienen zwinge, verlangsame er sein Tempo. "Dadurch muss der Autoverkehr hinter mir auch bremsen. Ich beschleunige dann aber direkt wieder und kann in einem größeren Winkel über die Gleise fahren."