Senioren im Straßenverkehr:Fahren, solange es geht

Rentner am Steuer

Mehr Training, weniger Unfälle - so zumindest erhoffen sich das Veranstalter und Teilnehmer von freiwilligen Fahrkursen für Senioren.

(Foto: Jonas Schöll/dpa)

Einst machten sie viele tausend Kilometer im Jahr, nun fühlen sie sich unsicher. Immer mehr Senioren absolvieren deshalb ein freiwilliges Fahrtraining. Zu Besuch bei Menschen, die mobil bleiben wollen.

Von Friederike Zoe Grasshoff

Okay, sie sind alt, das wissen sie ja. Aber sie fahren noch; sie sind auf der Straße, sie bremsen und blinken und überholen. Sie sind unterwegs, so wie die Jungen. Nur heute, da stehen die zwölf Senioren auf einem Verkehrsübungsplatz in Essen, einen Vormittag werden sie wieder Schüler sein. Sie werden Slalom fahren, sie werden notbremsen. Ja, sie gehen wieder in die Fahrschule, mit über 70. Denn so mobil sie alle sind, lauert da doch diese eine Frage: Was kann ich noch?

Es ist eine große Frage, und sie zieht viele Fragen mit sich: Kann ich noch gut genug fahren, bin ich eine Gefahr, für mich, für andere? Und wenn ich das nicht bin, wie lange kann ich noch fahren - und wann ist mal Schluss mit dieser großen, dieser sehr deutschen Freiheit? Wie Schüler, die wirklich Schüler sein wollen, stehen sie an diesem sonnigen Wintermorgen vor der Fahrsicherheitstrainerin Maria Brendel-Sperling, einer Frau mit fester Stimme und Walkie-Talkie in der Hand.

Klaus Lentföhr, 84, sitzt kurz darauf in seinem silbergrauen Wagen, aus dem Walkie-Talkie dröhnt die Stimme der Fahrtrainerin: "Die Dosis macht das Gift!" Vor sich hat er eine Reihe von Pylonen, jetzt bitte: Slalom. Nicht zu schnell und nicht zu langsam, nicht zu viel und nicht zu wenig Gas.

Lentföhr beschleunigt auf 30, es gibt jetzt nur ihn und den Wagen, ihn und das Lenkrad. Eine Kurve, zwei Kurven, drei Kurven. "Jawoll, sehr gut, Klaus. So schnell kann man da durchfahren!" Lentföhr lächelt, sagt: "Wär ja auch seltsam, wenn ich das nach so vielen Jahren nicht könnte." Seinen Führerschein hat er seit 1952, und früher, als Vertreter, da sei er 100 000 Kilometer im Jahr gefahren. Wieso er dann hier ist, wenn er doch weiß, dass er es noch kann? "Ich wollte wissen, ob ich wirklich noch so gut fahre, wie ich denke. Ich wollte wissen, wo ich stehe."

"Ü60, aber sicher!"

Das wollen sie alle wissen. Schon am Morgen sitzen die zwölf Senioren in dem kahlen Flachbau neben dem Übungsplatz, vor ihnen Filterkaffee, Plätzchen in Plastikpackung, Anmeldebögen. Nachdem im vergangenen Jahr im Essener Stadtteil Rüttenscheid ein 80-jähriger Autofahrer eine 27-jährige Fußgängerin tödlich verletzt hat, kommen viele Rentner auf den Verkehrsübungsplatz. Die Essener Verkehrswacht hatte diesen Unfall zum Anlass genommen, ihr Präventivprogramm für Senioren neu aufzulegen, auch in anderen Städten werden solche Kurse für ältere Menschen angeboten.

Mit den Anmeldungen kommen sie in Essen kaum hinterher: Sehtest, Reaktionstest, Slalomfahrten und Vollbremsung - das Ganze kostet 50 Euro und heißt "Ü60, aber sicher!" Auch Karl-Heinz Webels, Vorsitzender der Verkehrswacht Essen, sitzt mit am Tisch: Noch bevor sich jemand vorgestellt hat, blickt er in die Runde: "Unser Bestreben ist es nicht, Ihnen etwas wegzunehmen. Wir wollen Ihre Mobilität erhalten."

Mobil waren sie, mobil wollen sie bleiben. Die Jüngste hier ist 74, der Älteste 88. Wenn sie darüber reden, wie viele Kilometer sie früher pro Jahr gefahren sind - 60 000, 80 000, 100 000 - klingt das, als würden Social-Media-Menschen über ihre Follower reden. Oder böse ausgedrückt: Hier sitzen die Streber unter den Senioren. Diejenigen, an denen die Meldungen über rasende Rentner auf deutschen Straßen eben nicht vorbeigehen.

Dieser Montag ist auch eine Prüfung

Aber hier sitzen nicht nur Menschen, die wissen wollen, was sie verlernt haben. Hier sitzt auch eine Generation, für die das Auto immer noch ein Freiheitsversprechen ist, ein Lebensgefühl, eine Form der Selbstberauschung, ein Bürge für Beweglichkeit, eine große Liebe. Was umgekehrt heißt: Das Auto, es ist auch immer ein Test, wie sicher man im Leben steht - und wo sich das Alter doch bemerkbar macht. So wie Klaus Lentföhr nicht mehr gerne im Dunkeln fährt, will ein anderer eine "Risikobeschränkung für einen alten Knacker". Und Rolf Laakemann, 77, graue Haare, junge Augen, erzählt, was die Leute in seiner Stammkneipe zu diesem Training hier gesagt haben: "Du scheißt dir in die Bux." Er hält inne, "aber wir sind hier nicht die Dümmsten, wir lernen nur was". Ja, auch diese Frage ist eine große Frage: Was, wenn die Trainerin am Ende des Tages sagt: Nicht mehr hinters Steuer? Dieser Montag im Essener Gewerbegebiet, er ist auch eine Prüfung.

Senioren im Straßenverkehr, in Deutschland ist das ein Reizthema. Allein in dieser Woche hat eine 79 Jahre alte Falschfahrerin auf der A 7 im Heidekreis mehrere Unfälle verursacht und wurde dabei selbst schwer verletzt. Ein 73-Jähriger fuhr mit seinem Lastwagen auf der A 33 auf einen anderen Lastwagen auf, wodurch zwei Männer schwer verletzt wurden und eine Frau starb. Und schon im Oktober löste ein 86-Jähriger in München eine Massenkarambolage aus, bei der eine junge Frau noch am Unfallort starb. Fast immer wird nach solchen Unfällen über Fahrverbote, Pflichttests und Gesundheitschecks für Ältere diskutiert.

Die Statistik ist zwiegespalten

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes hatten Autofahrer zwischen 65 und 74 Jahren, die im Jahr 2015 in einen Unfall verwickelt waren, diesen mit einer Wahrscheinlichkeit von 61 Prozent auch verursacht. Bei den über 75-Jährigen war dies aber zu 75 Prozent der Fall - der "mit Abstand höchste Wert aller Altersgruppen". Der für die jungen Fahrer zwischen 18 und 24 lag bei 65 Prozent. Blickt man auf die absoluten Zahlen, liegen die Unfallzahlen bei jüngeren Menschen sehr viel höher als bei Senioren. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Jungen viel mehr auf den Straßen unterwegs sind.

Wer seinen Führerschein in Deutschland einmal hat, der hat ihn für immer - solange er ihn nicht freiwillig abgibt oder zu viele Punkte in Flensburg hat. Regelungen für das Autofahren im Alter gibt es nicht. Während in anderen europäischen Ländern ab einem gewissen Alter Tests absolviert werden müssen, ist der deutsche Autofahrer sein eigener Wächter. Er entscheidet, ob er zum Sehtest geht - oder 700 Kilometer durchfährt.

"Ich bin 77, irgendwann ist Schluss"

Oder ob er übt, so wie Rolf Laakemann, der jetzt auf eine kleine Mauer aus Pylonen zufährt, Tempo 30, Tempo 40. "Ich bin schon so lange auf der Straße. Da lernt man nur dazu." Er beschleunigt auf 50, tritt auf die Bremse. "Ach Mist, zu früh!" Die Trainerin ruft durchs Walkie-Talkie: "Die Bremsung war gut, aber noch nicht sehr gut, ein bisschen Wut im Bauch schadet auch nicht. Jetzt mit 60 plus." Laakemann dreht noch eine Runde, haut auf die Bremse, dieses Mal ist er nicht zu früh. Bevor er aussteigt, noch eine Frage: Hat er Angst, irgendwann nicht mehr fahren zu können? "Ich bin 77, irgendwann ist Schluss." Ein Satz, den man hier auf dem Platz immer wieder hört. Und was bedeutet ihm das, Autofahren? "Alles."

Dieses Alles wird hier heute niemandem genommen. Am Ende des Tages wird Brendel-Sperling keinem ihrer Schüler raten, nicht mehr zu fahren oder den Führerschein abzugeben - was sie auch schon getan hat. Probleme mit der Orientierung habe es bei zwei Teilnehmern gegeben, aber: "Es war keiner dabei, wo ich sagen würde: Das geht gar nicht." Und jeder habe seine Schwächen selbst erkannt. Klaus Lentföhr jedenfalls sieht aus wie ein Schüler, der eine Eins bekommen hat: "Es hat Spaß gemacht. Die Notbremse war das Beste." Und bevor sie alle wieder in ihre Autos steigen und ganz ohne Aufsicht nach Hause fahren, sagt ein Mann noch diesen einen Satz: "Ich hoffe, dass wir alle noch viele Jahre fahren werden." Also fahren sie. Solange es geht.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: