Verkehrshistorie:Hoch hinaus

Der Predigtstuhl ist ein 1613 m hoher Berg im Gebiet der Stadt Bad Reichenhall. Er zaehlt neben Hochstaufen, Zwiesel un

Die in den Zwanzigerjahren in Betrieb genommene Seilbahn auf dem Predigtstuhl gilt heute als älteste im Original erhaltene Großkabinenseilschwebebahn der Welt.

(Foto: Manfred Segerer/imago images)

Mit Seilbahnen fahren heute viele auf die Berge. Dabei wurde das Verkehrsmittel einst nicht für den Transport von Menschen entwickelt - und auch auf die Gipfel ging es erst später.

Von Joachim Göres

Seilbahnen kennen die meisten Menschen aus den Bergen. Dort sind sie ein beliebtes Transportmittel für Touristen, um in kurzer Zeit große Höhenunterschiede zu überwinden. Auch in einigen Großstädten, unter anderem in Südamerika, wird über den möglichen Einsatz von Seilbahnen diskutiert - angesichts verstopfter Straßen können sie eine Alternative zum klassischen öffentlichen Nahverkehr sein. Doch was viele nicht wissen: Ursprünglich spielte die Beförderung von Personen bei der Entwicklung der ersten Seilbahnen gar keine Rolle. Vielmehr ging es um den effizienten und schnellen Materialtransport.

Daran erinnert derzeit eine Sonderausstellung im Deutschen Erdölmuseum in Wietze in Niedersachsen. Sie ist dem einst weltweit größten Hersteller von Seilbahnen gewidmet, der Firma Adolf Bleichert & Co. aus Leipzig. Der Ingenieur und Unternehmensgründer Adolf Bleichert (1845 - 1901) konstruierte die erste Drahtseilbahn mit industriellem Charakter, die vom Jahr 1874 in Teutschenthal bei Halle Braunkohle von der Grube zur Weiterverarbeitung transportierte - dabei wurde eine Distanz von 740 Metern überwunden, mehrere Chausseen und Wege wurden gequert. Damals brachte noch eine Lokomotive die Zugseile der Seilbahn in Bewegung.

Auch die erste moderne Personen-Seilschwebebahn war ursprünglich nur für Material gedacht - bei Bozen brachte die Kohlernbahn Güter für ein Berghotel auf den Kohlern. Schon nach kurzer Zeit wurde sie auch gerne von Personal und Gästen genutzt, das war zwar illegal, kümmerte aber zunächst kaum jemanden. Eine österreichische Firma eröffnete schließlich eine reguläre Personenseilbahn auf den Berg.

Die wurde allerdings schnell wegen des holprigen Fahrtverlaufs und fehlender Bremsvorrichtungen von den zuständigen Behörden aus Sicherheitsgründen geschlossen - und so wurden die Leipziger Experten von Bleichert & Co. mit dem Neubau beauftragt. 1913 ging eine neue Anlage mit einer 1,6 Kilometer langen Trasse in Betrieb, mit Kabinen für bis zu 16 Personen.

Geheimcode für die Ingenieure

Zum wirtschaftlichen Durchbruch trug ausgerechnet der Erste Weltkrieg bei - Bleicherts Seilbahnen waren plötzlich für den schnellen Transport von Munition und anderem Nachschub an die Front gefragt. 1918 verlieh der sächsische König in einer seiner letzten Amtshandlungen an die Unternehmensnachfolger Max und Paul Bleichert als Anerkennung den Adelstitel mit Wappen, das den Leipziger Löwen mit einem Seilbahngestänge zeigt.

1924 erwarb Bleichert Patente vom Südtiroler Ingenieur Luis Zuegg, der entdeckt hatte, dass Seile straff gespannt sein müssen, damit sie belastbarer und haltbarer sind. Eigene Entwicklungen hielten die Leipziger vor der Konkurrenz unter anderem mithilfe eines Codebuches geheim, das allen Ingenieuren vorschrieb, sich mit verschlüsselten Botschaften zu verständigen.

1926 stellte Bleichert & Co. die erste hochalpine Personen-Seilbahn Europas fertig, die auf einer Länge von drei Kilometern einen Höhenunterschied von 1500 Metern überwand und auf die Zugspitze führte. Mit Rekorden kennt sich das Unternehmen aus: In Argentinien errichtete es schon 1902 die mit 34 Kilometern längste und auf 3500 Metern höchstgelegene Bahn. Mit ihr wurden Silber und Kupfer vom Berg geschafft, pro Stunde bis zu 40 Tonnen - das war effektiver und sicherer als der zuvor übliche Transport mit Maultieren über rutschige Wege. Die neun Kilometer lange Usambarabahn in Tansania schließlich entstand 1910 als weltweit steilste Seilbahn, mit der Holz befördert wurde. In Neukaledonien führte die längste über Wasser gebaute Seilbahn mehr als ein Kilometer ins Meer, wo Erze auf Schiffe umgeladen wurden. Die Firma baute sowohl die nördlichste (auf Spitzbergen) und die südlichste (in Chile) Seilbahn der Welt und war in 30 Ländern von Algerien und Australien bis zur Ukraine und Ungarn aktiv.

"Opfer sind nie thematisiert worden"

Insgesamt produzierte Bleichert & Co. in Leipzig, in Neuss sowie bei ausländischen Partnern 37 Personen-, 630 Militär- und 3500 Materialseilbahnen. Unter welchen Umständen diese Anlagen in oft unwegsamen Geländen entstanden, kann man heute nur noch erahnen. Beim Aufbau der Alpenseilbahnen waren Beschäftigte in großer Höhe ungeschützt bei der Arbeit, wie historische Aufnahmen aus einem MDR-Dokumentarfilm über die Bleichert-Werke zeigen - wie viele Arbeiter dabei zu Schaden kamen, lassen der Film und auch die Ausstellung offen. "Opfer sind bei Bleichert nie thematisiert worden", sagt Carsten Lauterbach, Gruppenleiter Bergbahnen bei den Dresdner Verkehrsbetrieben und einer der Ausstellungsmacher.

Dafür wird ein anderes trauriges Kapitel zumindest angedeutet. In der DDR verschwand der Name Bleichert, das Leipziger Werk wurde Teil des volkseigenen Betriebs VTA - die Buchstaben stehen für Verlade- und Transportanlagen Leipzig. Die Seilbahnproduktion wurde nicht wieder aufgenommen, dafür fertigte der Betrieb zum Beispiel Containerumschlagsanlagen für große Häfen in aller Welt und hatte Kunden in mehr als 60 Staaten. Nach der Wende gab es trotz zahlreicher internationaler Handelskontakte keine Zukunft für VTA, der Betrieb machte 1991 dicht, die Belegschaft wurde entlassen. Heute gibt es nur noch zwei große Seilbahn-Hersteller in Italien und Österreich, in Deutschland werden nach Angaben von Lauterbach keine Seilbahnen mehr gebaut.

Verkehrshistorie: Auch bei der Erdölförderung in Wietze in Niedersachsen kam von 1924 an eine Seilbahn zum Einsatz.

Auch bei der Erdölförderung in Wietze in Niedersachsen kam von 1924 an eine Seilbahn zum Einsatz.

(Foto: Deutsches Erdölmuseum)

Auch in Wietze, wo einst erstmals in Deutschland erfolgreich nach Erdöl gebohrt wurde, verkehrte von 1924 an eine Kipploren-Seilbahn made in Leipzig, die den Sand aus dem Ölschacht transportierte. Wer selbst mal in einer Bleichert-Seilbahn fahren möchte, der sollte die Bahn auf Predigtstuhl bei Bad Reichenhall nehmen. Sie wurde 1928 in Betrieb genommen, mit einer Talstation auf 474 Meter und einer Bergstation auf 1614 Meter Höhe. Ihre charakteristischen zwölfeckigen Leichtmetallkabinen schweben immer noch den Berg hinauf. Sie gilt heute als älteste im Original erhaltene Großkabinenseilschwebebahn der Welt.

Die Sonderausstellung zu den Bleichert-Werken ist noch bis 21. November im Deutschen Erdölmuseum Wietze zu sehen, vom 27. November bis 31. Mai 2022 wird sie im Oberharzer Bergwerksmuseum in Clausthal-Zellerfeld gezeigt. Der MDR hat einen 45-Minuten-Film über die Geschichte der Bleichert-Werke gedreht, zu finden unter www.mdr.de/entdecke/entdecke-bleichert-werke-100/html.

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