Süddeutsche Zeitung

Recycling von Schiffen:Schrott am Strand

Gift im Sand, Öl im Wasser: Viele ausrangierte Schiffe werden vor allem in Südasien abgewrackt - mit dramatischen Folgen für die Umwelt. Doch es geht auch anders.

Von Rolf Stünkel

Auf der geräumigen Kommandobrücke der Carnival Fantasy stehen die Offiziere in weißen Uniformen, leise Kommandos dringen aus dem Lautsprecher: "Steuerbord zehn ... mittschiffs! Zwölf Knoten ... Zwölf Knoten sind gut." Alles ganz normal, Routine auf der Brücke eines Kreuzfahrtschiffs. Doch irgendetwas stimmt nicht an diesem Einlaufmanöver. Wo ist der Hafen? Vor dem Bug taucht lediglich ein breiter Strand auf, große Schiffe liegen bereits davor wie tote Wale.

Die Carnival Fantasy zielt auf eine Lücke zwischen zwei Dampfern, kommt immer näher. Bald sind es nur noch wenige Meter. "Hart Steuerbord, hart Steuerbord", tönt es aus dem Funkgerät. Dann geht alles ganz schnell. Dicht neben einem blauen Passagierdampfer schiebt sich das Schiff auf den Strand und kommt ächzend zur Ruhe. Ein Schiffsfriedhof! Die Carnival Fantasy hat ihre letzte Reise beendet.

Die Szene ereignete sich im Sommer 2020, kurz vor der Küste von Aliağa, einer Halbinsel etwa 50 Kilometer nördlich von Izmir, wie man auf Youtube-Videos sehen kann. Dort landen seit Ausbruch der Corona-Krise vor etwas mehr als einem Jahr die modernsten Meeresfahrzeuge, teils kaum 20 Jahre alt. Zuletzt waren unter anderem Schiffe der Carnival-Reederei dran, die Fantasy, die Inspiration und die Imagination, alle in Topzustand. Die Fantasy war erst 2019 für mehrere Millionen Euro aufgemöbelt worden.

Corona trifft manche Reederei hart

"So etwas haben wir noch nicht gesehen", sagte Kamil Onal, Präsident der türkischen Schiffsverwerter, damals einem Reporter der New York Times. "Vor der Pandemie zerlegten wir hauptsächlich Frachter, aber jetzt, nach Monaten ohne Passagiere, ereilt auch Kreuzfahrtschiffe dieses Schicksal." So gab die Kreuzfahrt-Reederei Carnival nach einem Rekordverlust von 2,9 Milliarden US-Dollar im zweiten Quartal 2020 die Außerdienststellung von 13 Schiffen bekannt. Anderen Reedereien geht es kaum besser.

Was aber passiert mit den Schiffen? Abwracken war lange ein Knochenjob, gefährlich und umweltschädlich. Schiffe enthalten viele Schadstoffe wie Asbest und Schwermetalle, es sammelt sich sogenanntes Bilgenwasser, eine trübe Brühe, im untersten Raum eines Schiffes, in der Bilge, direkt oberhalb des Kiels. Auch Unmengen an Öl- und Kraftstoffresten sind oft noch an Bord.

All das passt in keinen Schredder; Schiffe können - allein schon wegen ihrer Größe - nur an bestimmten Orten zerlegt werden. Noch in den Sechzigerjahren gab es in Europa zahlreiche Verschrottungsbetriebe; in fast jedem größeren Hafen lagen rostige Pötte, zerrupft und ausgeweidet wie alte Autos. Wegen der geringeren Löhne und fehlenden Arbeits- und Umweltschutzstandards verlagerte sich das Geschäft später vor allem nach Südasien - und daran hat sich bis heute wenig geändert.

Gift versickert im Sand, Öl treibt vor der Küste

Die Nichtregierungsorganisation Shipbreaking Platform listet für 2020 insgesamt 630 verschrottete Hochseeschiffe auf; allein 446 davon gingen nach Indien, Pakistan und Bangladesch. In diesen Ländern werden die Schiffe beim "Beaching" mit hoher Fahrt auf den Strand gesetzt - und dort zerlegt. Es ist die gefährlichste und umweltschädlichste Art der Verschrottung.

Giftige Schiffsrückstände versickern im Sand und bilden nicht selten einen öligen Teppich vor der Küste. Einheimische arbeiten oft barfuß und mit bloßen Händen im stinkenden, ölverseuchten Schlamm, schleppen schwere Lasten und zertrennen in schwindelnder Höhe mit dem Schneidbrenner Decks und Wände. Kinder transportieren Gasflaschen und Stahlkabel oder sortieren Einzelteile. Sie sind ständig in Gefahr, von tonnenschweren Stahlplatten erschlagen zu werden. Laut Shipbreaking Platform kamen seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009 bis Dezember vergangenen Jahres in 407 Menschen ums Leben; mehr als 280 wurden verletzt.

Der weltgrößte Abwrackplatz ist Alang in Indien. Hier endet nach indischen Medienangaben etwa jedes zweites Schiff, zu Spitzenzeiten sind es mehr als 450 pro Jahr. Am zehn Kilometer langen Strand von Gadani bei Karatschi in Pakistan zerlegen mehr als 130 Betriebe jährlich bis zu 125 Schiffe. Und in Chittagong (Bangladesch) wurden nach Angaben von Shipbreaking Platform sogar für neue Abwrack-Flächen 14 000 Mangrovenbäume illegal abgeholzt, deren Aufzucht zuvor von den Vereinten Nationen gefördert worden waren.

Der Schrott-Tourismus ist das letzte Glied im gut geölten Kreislauf der Schiffsindustrie. Etwa 50 000 Hochseeschiffe verkehren auf den Weltmeeren, die meisten für Reedereien in Griechenland, Japan, China, in den USA und Norwegen, mehr als 70 Prozent der Schiffe fahren aus Kostengründen unter den Flaggen von Panama, den Marshallinseln und Liberia. Haben die Stahlkolosse nach einer Nutzungsdauer von 25 bis 35 Jahren ausgedient, werden sie oft diskret an "Cash Maker" und Briefkastenfirmen in St. Kitts und Nevis, auf den Komoren, auf Palau, Tuvalu oder in Togo weitergereicht. Unter den "Flags of Convenience" (übersetzt etwa: zweckdienlichen Flaggen) dieser Staaten und mit neuem Namen gehen die alten Dampfer auf ihre letzte Fahrt - meist zum Beaching nach Südasien.

Aktiv werden gegen den Umweltfrevel

Behörden, Interessenverbände und die Öffentlichkeit wollen dem Umweltfrevel nicht mehr teilnahmslos zusehen. Zwei internationale Abkommen von 1989 und 2009 sollten das Abwracken umweltfreundlicher machen: die Baseler Konvention über die "Kontrolle grenzüberschreitender Bewegungen von gefährlichen Abfällen und deren Entsorgung" sowie die "Hongkong-Konvention für sicheres und umweltverträgliches Schiffsrecycling". Der Effekt war zunächst gering, denn die Anwendung der Abkommen blieb den jeweiligen Flaggenstaaten überlassen; Reeder konnten ihre Schrottschiffe seelenruhig zur "Reparatur" nach Süd- und Südostasien senden und so die Kontrollen umgehen. Obendrein erlaubte die Hongkong-Konvention weiter das gefährliche Beaching und machte keine Auflagen für den Umgang mit den gewonnenen Gefahrstoffen.

Doch mittlerweile gibt es erste Fortschritte: Schiffe unter EU-Flagge (und solche von Drittstaaten in europäischen Gewässern) dürfen keine gefährlichen Abfälle mehr ausführen, was das schrottreife Schiff mit einschließt. Die Internationale Meeres-Organisation IMO verpflichtet Reeder zudem zur Auflistung aller gefährlichen Materialien an Bord. Seit Dezember 2019 untersagt der Baseler Exportverbots-Zusatz die Abfall-Ausfuhr auch OECD-Mitgliedstaaten und Liechtenstein. 98 Nationen haben den Zusatz bereits unterzeichnet.

Noch wichtiger ist aus Sicht von Umweltschützern die Abkehr vom Beaching. Seit 2019 ist die europäische Schiffsrecycling-Verordnung in Kraft, nach der Handelsschiffe unter EU-Flagge nur von zertifizierten Betrieben recycelt werden dürfen. Erlaubt sind derzeit drei Methoden: die Zerlegung an der Pier, am Ufer oder im Trockendock. Bei der Pier-Verschrottung zerlegen Fachkräfte das Schiff mit Kränen von oben nach unten. Ist der Rumpf leicht genug, wird er aus dem Wasser gehievt und an Land zu Ende zerkleinert.

Beim "Landing"-Verfahren werden die Schiffe ähnlich wie beim Beaching ans Ufer gesetzt, doch ihre flüssigen Schadstoffe gelangen nicht ins Wasser. Die Rümpfe werden dazu Stück für Stück auf den vorbereiteten trockenen Untergrund gezogen und dort umweltschonend zerteilt. Die aufwendigste der drei Lösungen schließlich ist das Recycling im Trockendock, bei dem das Schiff sorgfältig in einer Art Rundum-Verfahren in Einzelteile zerlegt wird.

Fast alles wird weiterverwertet

Werden diese Verfahren genutzt? Weltweit arbeiten bereits 43 von der EU zertifizierte Betriebe so, darunter 30 in der Europäischen Union, acht in der Türkei und einer in den USA. Und einige Reeder gehen mit gutem Beispiel voran: So arbeiten die Abwracker in Aliağa in der Türkei, wo die Carnival Fantasy und ihre Schwesterschiffe seit vergangenem Sommer zerlegt werden, laut Unternehmensangaben nach der EU-zertifizierten "Landing"-Methode. Ein Team des niederländischen Recycling-Experten Sea 2 Cradle überwacht im Auftrag der Reederei den Fortgang der Arbeiten. Die Leute kennten die Schiffe, hätten alle gefährlichen Materialien aufgelistet und an den Recyclingplänen mitgewirkt, erläutert Sea-2-Cradle-Geschäftsführer Wouter Rozenveld. Man bleibe vor Ort, "bis das letzte Stück Stahl im Hochofen gelandet ist".

Dabei wird fast alles an Bord weiterverwendet. Hotels und Großbetriebe übernehmen zum Beispiel Möbel, Tische und ganze Kabineneinrichtungen, auch Antiquitäten-Händler greifen gerne zu. Der Händler Noyan Yurttas sagte der New York Times: "Uhren, Schwimmwesten oder Waschbecken, blank polierte nautische Geräte aus Messing - die Leute kaufen alles." So könnte es sein, dass Teile der Carnival Fantasy vielleicht mal auf einem anderen Luxusliner landen. Es wäre nicht das erste Mal: So schmücken kostbare Walnuss-Paneele des Titanic-Schwesterschiffs Olympic (1911-1935) heute ein Restaurant auf dem Kreuzfahrtschiff Celebrity Millennium.

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