Süddeutsche Zeitung

Schienenverkehr:Wie Güterzüge an der Grenze ausgebremst werden

Während Lkw ungehindert durchfahren, gibt es für den Schienenverkehr innerhalb der EU große Hürden zu überwinden. Technische - und vor allem sprachliche.

Von Marco Völklein

Holger Graf ist gut unterwegs an diesem Freitagmittag. Gegen 11.45 Uhr ist der Lokführer mit seinem Güterzug Nummer 45365 aus dem Rangierbahnhof Nürnberg rausgekommen, etwa zehn Minuten später als geplant. Dann hat er die Verspätung wieder hereingeholt. Nun, in Schirnding, kurz vor der Grenze zu Tschechien, liegt Graf deutlich vor dem Fahrplan. Nur noch ein paar Kilometer, dann ist Zug 45365 im tschechischen Bahnhof Cheb (deutsch: Eger). Dort aber steht ein Zwangshalt auf dem Programm.

Während auf der nahe gelegenen Bundesstraße B 303 die Lkw über die Grenze rauschen, muss Lokführer Graf runter von der Lok. Ein tschechischer Lokführer übernimmt den Zug. Zudem wird die deutsche Diesellok ab- und eine Maschine aus Tschechien angekoppelt. Graf geht noch hinüber ins Büro der Tschechen, um die Papiere mit der Fracht und den aufgelisteten Waggons zu übergeben. Eine gute halbe Stunde dauert das alles. In der Welt der Logistik ist das eine halbe Ewigkeit.

Ähnlich läuft es an vielen anderen Grenzen. Europa ist bahntechnisch gesehen ein "Flickenteppich", sagt Peter Westenberger, Geschäftsführer des Güterbahnverbands NEE (das steht für "Netzwerk Europäischer Bahnen"). Es existieren beispielsweise ein halbes Dutzend Stromsysteme. In Deutschland, Österreich und der Schweiz fließen 15 Kilovolt Wechselstrom durch die Oberleitungen, in Belgien, Spanien und Italien ist es Gleichstrom mit drei Kilovolt. Und über den Gleisen in Dänemark, Frankreich oder den Niederlanden gibt es wieder andere Systeme.

Ähnlich sieht es bei der Leit- und Sicherungstechnik aus. Lokführer Graf musste einen dreitägigen Lehrgang absolvieren und abschließend eine Prüfung ablegen, um zu zeigen, dass er die Signale der tschechischen Bahn bei der Einfahrt nach Cheb auch versteht. Wird etwa der Befehl "Langsamfahrt erwarten" auf deutscher Seite am Vorsignal mit zwei diagonal angeordneten gelben und grünen Lichtern angezeigt, so signalisieren die Tschechen die gleiche Anweisung mit einer Kombination aus gelbem Punkt und gelbem Strich. Jede Bahn hat ihr eigenes Regelwerk, ihre eigenen Signale, eigenen Fachbegriffe sowie Vorgaben zur Kommunikation - das ist zum einen historisch gewachsen, zum anderen aber auch, weil man lange versuchte, unliebsame Konkurrenz auszusperren. Zudem ist die jeweilige Landessprache in der Regel auch die Betriebssprache. Wer die nicht beherrscht, darf dort nicht fahren.

Bei der gesperrten Rheintalbahn wurde das ganze Ausmaß der Misere deutlich

Für Güterbahnen ist das ein Problem. Es hemmt ihr Geschäft, vor allem im Wettlauf mit dem Lkw. Der fahre quasi ungebremst über Grenzen hinweg, sagt Westenberger, allenfalls gestoppt von Stichprobenkontrollen durch Polizei, Zoll oder Aufsichtsbehörden wie dem Bundesamt für Güterverkehr. Auch der Landesverband Bayerischer Transport- und Logistikunternehmen erklärt auf Anfrage, dass es beim Lkw außer diversen "Verhaltens- und technischen Vorschriften zumindest im Bereich der Standardverkehre keine großen Hürden mehr gibt". Fährt aber ein Güterzug etwa aus Tschechien nach Deutschland, muss ein Wagenmeister ihn im Grenzbahnhof ablaufen und jeden Waggon auf Technikmängel abklopfen, berichtet der Hersbrucker Bahnbetreiber IGE.

Wie sehr der Bahnverkehr gehemmt wird, zeigte zuletzt die Sperrung der Rheintalbahn bei Rastatt. Dort war bei Bauarbeiten der Boden unter der bestehenden Strecke abgesackt, die für den Güterverkehr wichtige Trasse rechts des Rheins sieben Wochen lang blockiert. Eine Umleitung über die linksrheinische Strecke durchs Elsass hätte sich angeboten. Doch die zu nutzen, ist knifflig: Vielen deutschen Lokführern fehlten nicht nur die Worte, um mit den französischen Fahrdienstleitern zu kommunizieren, sondern auch die vorgeschriebenen Streckenkenntnisse. Außerdem mangelte es an Lokomotiven, die für das französische Netz zugelassen sind.

Dabei wächst das internationale Transportaufkommen stetig. Die Güterverkehrstochter der Bahn, DB Cargo, macht mittlerweile etwa 60 Prozent ihres Geschäfts im grenzüberschreitenden Verkehr. Seit 2013 steuert die Firma aus einer zentralen Leitstelle in der Nähe des Frankfurter Flughafens, zusammen mit regionalen Disponenten, sämtliche Güterzüge in Europa. Nicht nur während der Sperre bei Rastatt, zuletzt auch bei diversen Stürmen mussten die Disponenten immer wieder eingreifen, um Waren und Güter noch einigermaßen rechtzeitig ans Ziel zu bringen. "Eine europaweite Harmonisierung der grenzüberschreitenden Verkehre würde uns sehr helfen", sagt Wolfgang Maier, der Chef des "Operations Center" in Frankfurt.

Doch davon sind Europas Bahnen noch weit entfernt. Dabei seien die technischen Hürden noch relativ einfach zu überwinden, sagt Thorsten Dieter, Chefplaner bei DB Cargo. Es gibt Mehrsystemloks, die verschiedene Strom- und Signalsysteme beherrschen. Auf deren Dächern sind diverse Stromabnehmer verbaut, um den unterschiedlichen Wippenbreiten zu entsprechen. Denn auch das gibt es: Bei deutschen Loks sind die Stromabnehmer 195 Zentimeter breit, in der Schweiz 50 Zentimeter schmaler. DB Cargo hat kürzlich 60 Mehrsystemloks bestellt, die von Holland bis Italien durchfahren können. Damit wächst der Bestand an solchen Loks im Fuhrpark des Unternehmens um ein Drittel.

Sprachbarrieren und unterschiedliche Signale

Das größere Problem aber seien die Lokführer und deren Sprachkenntnisse, sagt Chefplaner Dieter. Weil die aufwendig geschult werden müssen, um ein entsprechendes Niveau zu erreichen, "sind wir da zum Lkw nicht wettbewerbsfähig". Netzbetreiber und Aufseher bestehen dennoch unter anderem aus Sicherheitsgründen darauf. Dieter fände es besser, wenn ein branchenspezifischer Mindestwortschatz zum Beispiel in Französisch vereinbart wäre, den ein deutscher Lokführer können muss, um nach Frankreich fahren zu dürfen. Oder man könne langfristig darüber reden, Englisch als zweite Betriebssprache einzuführen - zumindest in den europäischen Bahnkorridoren, in denen viele grenzüberschreitende Transporte laufen.

Auch die Signalisierung ließe sich vereinheitlichen. Schließlich hatte man auf EU-Ebene vor Jahren das einheitliche "European Train Control System", kurz: ETCS, ersonnen. Doch mittlerweile entsteht auch hier ein Flickenteppich, nahezu jeder Staat sei derzeit dabei, in den Regelwerken für ETCS neue Hürden zu errichten, berichten Branchenkenner. Auch Westenberger hat "starke Beharrungskräfte" bei den Netzbetreibern ausgemacht, die wenig bereit seien, "über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen". Solange der Betrieb auf dem bestehenden Netz rollt, gebe es kaum Anreize, auf ETCS umzustellen. Letztlich, findet Westenberger, sei da die EU als ordnende Kraft gefordert.

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SZ vom 02.12.2017/harl
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