Süddeutsche Zeitung

Schienenverkehr:Aus dem Bahn-Chaos nichts gelernt

Vor zwei Jahren ging auf der Trasse durchs Rheintal über Wochen nichts mehr. Hat die Branche die richtigen Lehren aus dem Debakel gezogen?

Von Marco Völklein

Michail Stahlhut hat die Chaos-Tage von 2017 noch gut in Erinnerung. "So etwas hatte ich bis dahin in der Eisenbahnwelt noch nicht erlebt", sagt der Chef des Schweizer Frachtdienstleisters Hupac. Als Mitte August 2017 in der Nähe von Rastatt der Boden unter den Gleisen der Rheintalbahn wegsackte und damit eine der wichtigsten Verbindungen im Nord-Süd-Verkehr blockiert war, arbeitete Stahlhut noch im Vorstand der Frachttochter der SBB, der Schweizerischen Bundesbahnen. Schnell habe man sich daran gemacht, "etwa 60 Maßnahmen zu entwickeln", erzählt er, wie der Umleitungsverkehr an der wichtigen Trasse vorbeigeführt werden könnte. "Nach und nach", sagt er, "haben wir die meisten davon wieder verworfen."

Tatsächlich war das Unglück für die Schienengüterbranche eine Zäsur. Sieben Wochen lang ging gar nichts mehr auf der stark frequentierten Strecke. Bis heute ist unklar, was auf der Baustelle bei Rastatt genau passiert ist. Und manch einer befürchtet, dass die Bahnbetreiber und die Verkehrspolitiker nicht die richtigen Lehren aus dem Debakel gezogen haben. "So etwas", sagt einer und meint damit nicht den Unfall an sich, sondern die chaotischen Folgen, "kann jederzeit wieder passieren."

Die Strecke durchs Rheintal ist eine wichtige Verbindung in Europa, an verkehrsreichen Tagen nutzen bis zu 200 Güterzüge die Trasse. Deshalb plant die Deutsche Bahn (DB) schon seit Jahren einen Ausbau der Trasse zwischen Karlsruhe und Basel, zwei zusätzliche Gleise sollen mehr Kapazitäten schaffen. In Rastatt wollten die Ingenieure die neuen Gleise in zwei Tunnelröhren unter der bestehenden Strecke hindurchführen. Dazu wurde der Kiesboden vereist, zwei Tunnelbohrmaschinen wühlten sich durch den Untergrund.

Am 12. August 2017 geschah dann das Unglück: Als die östliche Bohrmaschine die bestehende Trasse querte, sackten die Gleise an der Oberfläche ab. Der Zugverkehr wurde gestoppt, Arbeiter pumpten in höchster Not Unmengen Beton in den Untergrund, die millionenteure Bohrmaschine wurde gleich mit einbetoniert. Auch der Vortrieb der Weströhre, wo die zweite Maschine noch nicht so weit vorgedrungen war, wurde gestoppt. Bis heute ist unklar, was genau im Untergrund geschah. Die DB und die Baufirmen befinden sich in einem Schiedsverfahren, um Ursache und Haftungsfragen zu klären. Klar ist nur: Der ursprüngliche Kostenrahmen von 700 Millionen Euro für den Abschnitt zwischen Karlsruhe und Rastatt wird nicht zu halten sein.

Nach mittlerweile mehr als zwei Jahren Stillstand auf der Tunnelbaustelle machte die Bahn vor Kurzem deutlich, wie es nun weitergehen soll. Die damals in der Weströhre vorsorglich gestoppte Maschine soll laut DB-Manager Dirk Rompf im kommenden Jahr den Bohrbetrieb wieder aufnehmen und die noch verbleibenden 200 Meter im Untergrund absolvieren. Dann wäre zumindest die westliche Röhre geschafft.

Deutlich komplizierter wird das Verfahren in der Oströhre - dort steckt ja die einbetonierte Tunnelvortriebsmaschine im Boden. Um diese zu bergen, wollen die Ingenieure die Bahngleise an der Oberfläche auf etwa 700 Meter Länge nach Westen verlegen. So wird genügend Platz geschaffen, um eine 200 Meter lange und bis zu 17 Meter tiefe Baugrube ausheben zu können. Dort sollen Arbeiter dann mit schwerem Gerät die Tunnelbohrmaschine aus ihrem Betonpfropfen herausbrechen. Laut Rompf sollen die Baufirmen mit diesen Arbeiten im Jahr 2021 beginnen. Denn zuvor müssen Fachleute des Eisenbahnbundesamts das neue Vorgehen noch absegnen. Läuft alles nach Plan, könnte der Tunnel im Jahr 2025 in Betrieb genommen werden - das hoffen sie zumindest bei der DB.

Branchenkenner wie Peter Westenberger vom Netzwerk Europäischer Bahnen (NEE), einem Zusammenschluss mehrerer Güterbahnbetreiber, begrüßen zwar, dass nun zumindest in absehbarer Zeit an dem wichtigen Tunnel weitergebaut wird. Zugleich aber bemängelt er, dass wenig konkrete Lehren aus der Havarie gezogen wurden. Bahnmanager wie der heutige Hupac-Chef Stahlhut stellten damals rasch fest, dass es für die vielen Züge nicht genügend Umleitungsstrecken gab. Um die Gleise auf der französischen Rheinseite nutzen zu können, hätten die Lokführer die französischen Sprache beherrschen müssen - viele konnten dies nicht. Denn anders als im Flugverkehr, wo sich Lotsen und Piloten auf Englisch verständigen, gilt im Bahnbetrieb die jeweilige Landessprache - nach wie vor. Ein weiteres Problem: Auf einigen parallel zur Rheintrasse verlaufenden Strecken auf deutscher Seite wurde damals ebenfalls gebaut. Teile der Umleitungsstrecken waren zudem nur mit Dieselloks zu befahren, aufwendiges Umkuppeln war die Folge. Unterm Strich, sagt Stahlhut, konnte daher nur ein kleiner Teil des Bahnverkehrs umgeleitet werden, Industriekunden wichen auf die Straße oder Wasserwege aus. Branchenkenner wie Westenberger glauben: Im Wettlauf der Verkehrsträger untereinander hat das Rastatt-Debakel den Güterbahnen nachhaltig geschadet.

Zumal als einzig nennenswerte Konsequenz aus der Havarie ein "Handbuch für internationales Notfallmanagement" entwickelt wurde. Darin finden sich nun Anleitungen, wie sich bei einer Großstörung die europäischen Zugstreckenbetreiber untereinander besser koordinieren. Zudem wurde vereinbart, dass die Bahnfirmen Umleitungsstrecken definieren und deren technische Parameter en détail veröffentlichen. Manch einer schüttelt da den Kopf und sagt: Das reicht nicht. So appelliert beispielsweise Heiko Fischer, Chef des Waggon-Vermieters VTG, immer wieder an die Politik, mehr Geld ins System Schiene zu pumpen. Damit ließen sich unter anderem Zahl und Leistungsfähigkeit der Ausweichstrecken steigern.

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SZ vom 07.09.2019/cku
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