Süddeutsche Zeitung

Fahrerlose Autos:Überholspur ins Nichts?

Im Wettlauf zum autonomen Fahren werden Milliarden investiert. Wann sich das auszahlt, ist ungewiss - denn ein großflächiger Serieneinsatz von Robotaxis ist nicht in Sicht.

Von Joachim Becker

Wird Deutschland zum Technologiemuseum? Selbst US-Start-ups mit 700 Mitarbeitern sind den hiesigen Autoherstellern beim autonomen Fahren scheinbar voraus. Diesen Schluss legen Berichte der kalifornischen Straßenverkehrsbehörde DMV (Department of Motor Vehicles) nahe. Im vergangenen Jahr waren 28 Unternehmen mit insgesamt 496 autonomen Fahrzeugen an der US-Westküste unterwegs. Immer wenn die Maschine nicht weiter wusste und den Dienst quittierte, gab es einen "Disengagement"-Eintrag (englisch für: Abkoppeln). Solche Kontrollübergaben an Sicherheitsfahrer werden jährlich in "Disengagement-Reports" aufgelistet: 2018 fielen deutsche Marken dabei weit zurück.

VW-Boss Herbert Diess gab jüngst zu, man liege entwicklungstechnisch "ein bis zwei Jahre" hinter dem Google-Schwesterunternehmen Waymo, aber "das Spiel ist noch nicht verloren". Viele Kommentatoren schätzen den Rückstand eher auf fünf oder mehr Jahre. Schließlich hätten Unternehmen wie Waymo, GM Cruise oder Zoox ihre Führung kontinuierlich ausgebaut. Seit dem ersten Ranking 2015 verbesserten sich die Fahrroboter von Waymo/Google von 1991 Kilometer auf durchschnittlich 17 846 Kilometer ohne Übergabe an einen Sicherheitsfahrer. GM Cruise kommt auf 8327 Kilometer. Und Zoox, das US-Start-up mit 700 Mitarbeitern, schafft 3076 Kilometer. Kein Wunder, dass sich Probefahrten in den autonomen Shuttles sicher und seriennah anfühlen.

In der DMV-Bestenliste 2018 fallen BMW und Mercedes mit insgesamt neun Testautos zurück. Ihre Sicherheitsfahrer müssen alle sieben beziehungsweise zwei Kilometer eingreifen. Tesla meldet trotz des intensiven Testbetriebs mit dem Autopiloten 3.0 keine Daten an die DMV, während Waymo mit 111 autonomen Fahrzeugen die Bilanz anführt. Auch mit einer Verdreifachung der Laufleistung auf fast zwei Millionen Testkilometer liegt Waymo in Führung. Insgesamt waren die Roboterautos im vergangenen Jahr 3 258 074 Kilometer in Kalifornien unterwegs. Doch wie aussagekräftig sind solche Zahlen aus dem Schönwetterland? Auffallend ist zum Beispiel, dass Waymo-Fahrzeuge meistens im Doppelpack unterwegs sind: Das vordere Modell erfasst mit seinen Sensoren die Situation und verschafft dem hinteren Fahrzeug mehr Zeit, darauf zu reagieren. Augenzeugen berichten zudem, dass Waymo-Fahrer proaktiv an kritischen Stellen ins Steuer greifen. Das wird nicht als "Disengagement" gewertet, weil das System ja nicht von sich aus zur Übernahme aufgefordert hat.

Trotzdem taxiert die US-Investmentbank Jefferies den Waymo-Wert langfristig auf 250 Milliarden US-Dollar: Mehr als alle deutschen Autohersteller zusammen. Ist das Rennen also gelaufen, bevor es richtig begonnen hat? Im vergangenen Herbst verkündete Waymo-Chef John Krafcik stolz, man habe bereits 16 Millionen Testkilometer auf der Straße zurückgelegt, davon 15,5 Millionen Kilometer im Stadtgebiet. Trockener Kommentar eines Insiders: Es sei kaum zu vergleichen, wenn Waymo weite Strecken im Wüstenstaat Arizona zurücklege, während Zoox und Cruise hauptsächlich in den Innenstädten testen würden. Kyle Vogt, Chefentwickler von Cruise, bringt es auf den Punkt: "Unserer Erfahrung nach ist jede Testminute in San Francisco so wertvoll wie eine Stunde in den Vororten."

Google/Waymo hat für seine Vorreiterrolle Respekt verdient - und seit 2009 Milliarden dafür ausgegeben. Schon bald will das Unternehmen 62 000 umgerüstete Chrylser Pacifica und 20 000 Jaguar als autonome Testfahrzeuge auf die Straße bringen. Insider schätzen den Kapitalbedarf der Kalifornier auf weitere acht Milliarden Euro. Langsam wird es selbst dem Mutterkonzern Alphabet zu viel: Man suche Investoren und wolle Lidar-Scanner an Partner verkaufen. Doch ohne ein darauf geeichtes System zur Umfelderkennung sind die hochgenauen optischen Messgeräte nicht viel wert. Allzu viele zahlungskräftige Partner hat Waymo noch nicht, dafür aber eine schnell wachsende Zahl an Wettbewerbern. Im Silicon Valley fließen weiterhin große Mengen an Risikokapital in Start-ups zum autonomen Fahren. Und alle haben dasselbe Problem: Wenn sie keine lukrative Lösung finden, geht ihnen früher oder später das Geld aus.

Ein Serieneinsatz von Robotertaxis ist nicht in Sicht. Einzelne Pilotprojekte wie in den Vororten von Phoenix, Arizona, bringen eher Prestige als Einnahmen. Zumal sich das System nicht einfach in Großstädte verpflanzen lässt. Ohne eine Standard-Infrastruktur und möglichst abgetrennte Fahrspuren müssen die Fahrroboter ihr jeweiliges Einsatzgebiet erst in einer längeren Eingewöhnungsphase kennenlernen. Denn jede Stadt ist anders. Auch bei der Steuerungs-Software fehlen industrieweite Standards. Jeder Unfall wird die Schuldfrage nachdrücklich aufwerfen: Funktionale Sicherheit lässt sich aber nur schwer nachweisen, wenn man aus dem Stand ein komplett neues System entwickelt, das große Mengen an künstlicher Intelligenz einsetzt. Anders als die Autohersteller, die jede neue Funktion über ihre Assistenzsysteme hinaus in bewährter Manier abgesichert haben. Das kostet Zeit, sichert aber womöglich den Bestand der Firma.

Es sind zwei unterschiedliche Herangehensweisen, die miteinander im Rennen liegen: Mercedes und BMW entwickeln voneinander unabhängig bis 2020/21 zunächst einen hochautomatisierten Autobahnpiloten (Level 3). Auf dessen abgesicherten Funktionen, neuen Lidar-Sensoren auf einem Chip und der Elektronikarchitektur baut eine mögliche Partnerschaft für kostengünstigere Systeme der nächsten Generation und ein vollautomatisiertes Robotertaxi (Level 5) auf. Diese Woche wird BMW auch ein neues Datenzentrum mit 230 PetaByte Speicherplatz und über 100 000 Rechenkernen im Campus Unterschleißheim eröffnen: Das Rennen der autonomen Fahrzeuge wird sich nicht zuletzt in den Computer-Simulationen entscheiden. Waymo ist auch hier mit mehr als elf Milliarden Kilometern bisher führend: Pro Tag werden 16 Millionen virtuelle Testkilometer abgespult und spezielle Situationen in mehreren Tausend Varianten durchgespielt. Das alles ist nötig, um den Fahrer irgendwann komplett zu ersetzen. Wann immer das passieren wird.

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Quelle:
SZ vom 23.03.2019/cku
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