Risiko Fliegen:Trügerische Sicherheit

Zunehmende Automatisierung im Cockpit und späte Reaktion auf bekannte Gefahren machen das Fliegen zum Risiko.

Jens Flottau

Es könnte sein, dass es dieses Mal wirklich so weit ist. Denn in all den Jahrzehnten, in denen Flugunfälle akribisch untersucht werden, konnten die Experten nach Flugzeugabstürzen den Flugdaten- und den Stimmenrekorder finden - die Geräte ermöglichten es in der Regel, den Absturzhergang zu rekonstruieren. Doch jetzt schwinden die Chancen rapide, dass die Bergungstrupps noch die Black Box des Air-France-Airbus A330 finden, der am 1. Juni vor der brasilianischen Atlantikküste ins Meer stürzte.

Risiko Fliegen: Ursache und Wirkung: Immer mehr Computer im Cockpit bestimmen den Arbeitsplatz der Verkehrspiloten - zum Beispiel im Airbus (links). Das Pitotrohr (unten rechts) steht derzeit im Verdacht, Auslöser für Abstürze und manch kritische Situationen zu sein.

Ursache und Wirkung: Immer mehr Computer im Cockpit bestimmen den Arbeitsplatz der Verkehrspiloten - zum Beispiel im Airbus (links). Das Pitotrohr (unten rechts) steht derzeit im Verdacht, Auslöser für Abstürze und manch kritische Situationen zu sein.

(Foto: Fotos: oh, action press (1), Hady Khandani/Joker (1))

Kaum ein Unglück hat die Öffentlichkeit und mit ihr die Industrie in den vergangenen Jahren so sehr aufgewühlt. Schließlich war es ein fast neues Flugzeug, das einer der weltweit führenden Airlines gehörte - für viele also ein ungeheuerlicher Vorgang, der im Selbstbild der Branche nicht vorgesehen war. Was aber ist, wenn die Black Box tatsächlich nicht gefunden wird und die Details des Unfalls für immer im Dunklen bleiben? Kann sich die Branche dann bequem zurücklehnen und den Flug AF 447 als einmaligen Schicksalsschlag abhaken, so wie es derzeit viele Wortmeldungen andeuten? Dabei wäre zwingend das Gegenteil angesagt. Denn gerade Air France 447 ist ein Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn sich Unternehmen und Behörden zu sicher fühlen.

Erst nach dem Unfall, bei dem 228 Menschen ums Leben kamen, haben sinnvolle Reflexe wieder eingesetzt. Zwar ist noch nicht völlig geklärt, welche Rolle genau die Pitot-Sonden in der Ereigniskette gespielt haben; aber dass die Geschwindigkeitsmesser ein wichtiger Faktor darin gewesen sein können, lässt sich aus den wenigen bekannten Daten ableiten. Jetzt werden die Geräte des französischen Herstellers Thales nach einer Empfehlung des Flugzeugbauers Airbus allerorts ausgetauscht.

Die Frage ist: Warum erst jetzt? Wer sich zu sehr in Sicherheit wiegt, der beginnt, scheinbare Kleinigkeiten nicht mehr zu beachten. Doch auch diese können sich in der Luftfahrt verheerend auswirken. Doch scheint sich mancherorts eine latente und manchmal lähmende Selbstzufriedenheit breitgemacht zu haben. Denn der hohe Grad an Automatisierung der Flugzeuge führte dazu, dass sie im Routinebetrieb immer sicherer wurden. Doch fallen die komplexen Computersysteme aus oder liefern im Cockpit nur noch Informationsmüll, wird die Situation für die Piloten oft kaum mehr beherrschbar.

Auch die allgemeine Statistik gibt Anlass zur Sorge

Abstürze, in denen die Piloten in einer plötzlichen Krisensituation überfordert waren und die Kontrolle über ihre eigentlich weiterhin flugfähige Maschine verloren, sind zuletzt immer häufiger vorgekommen. Ein Extremfall ist der Qantas-Flug 72 vom 7. Oktober 2008. Die Air Data Inertial Reference Unit - also der Computer, der alle Flugdaten wie Geschwindigkeit oder Höhe sammelt und weitergibt - spuckte fehlerhafte Daten aus und ließ den Airbus A330 auf dem Weg von Singapur nach Perth unvermittelt schnell sinken und wieder steigen. Mehrere Schwerverletzte waren die Folge.

Und auch die allgemeine Statistik gibt zur Sorge Anlass: In den vergangenen zehn Jahren hat sich nach einer Untersuchung des Fachmagazins Flight International erstmals seit dem ersten motorisierten Flug der Gebrüder Wright 1903 der Sicherheitsstandard innerhalb einer Dekade nicht mehr verbessert, sondern ist lediglich konstant geblieben.

So war das Bewusstsein für mögliche Gefahren in der Vergangenheit nicht überall präsent. Siehe Air-France-Flug 447: Es war den Behörden, den Herstellern und den Fluggesellschaften bekannt, dass die Pitot-Sonden bei bestimmten Wetterbedingungen anfällig sind für Vereisung, deshalb die richtige Geschwindigkeit nicht mehr anzeigen und Bordcomputer wie Besatzung in große Verwirrung stürzen können. Besonders im Reiseflug kann dies schnell gefährlich werden, denn: Flugzeuge bewegen sich in großer Höhe in einem Geschwindigkeitsfenster, das nach oben und unten nur eine Differenz von rund 50 Kilometer pro Stunde zulässt - fliegen die Jets zu schnell oder aber zu langsam, drohen Kontrollverlust oder Strömungsabriss.

Schon viel früher hätte etwa die European Aviation Safety Agency (EASA) darauf drängen können, die besonders anfälligen Thales-Sonden der Version AA auszutauschen. Bei einem Kongress, der sich im September 2007 dem Thema Vereisung bei Flugzeugen widmete, trat auch der EASA-Zertifizierungsspezialist Eric Duvivier auf. In seiner Präsentation heißt es, dass es in Europa eine signifikante Zahl von Vorfällen während des Fluges gegeben habe. Fehlerhafte Pitot-Sonden müssten deshalb in einer Risiko-Skala mindestens als "hazardous" eingestuft werden; dabei handelt es sich um die zweithöchste Stufe. Stress und hohe Arbeitsbelastung können in seinem solchen Fall laut EASA-Definition dazu führen, dass die Piloten ihre Aufgaben nicht mehr akkurat und vollständig erfüllen. Die Sicherheitsmarge und wichtige Funktionen des Flugzeuges seien stark reduziert, tödliche Verletzungen für die Insassen möglich.

Die Behörden haben nicht gehandelt

Obwohl die Behörde also schon lange von den potentiellen Gefahren, die von vereisten Pitot-Sonden ausgehen, gewusst hat, hat sie nicht gehandelt. Auch dann nicht, als bei der französischen Ferienfluggesellschaft Air Caraibes zweimal die Sonden an Bord eines A330 streikten. Und die EASA meldete sich erst einige Tage nach dem Air-France-Absturz mit der Erklärung, verbindliche Anordnungen würden überprüft. Seither war nichts mehr passiert, bis Airbus für die Branche überraschend am vergangenen Donnerstag seinen Kunden in einem Accident Information Telex (AIC) mitteilte, sie mögen an jedem Flugzeug zwei der drei Thales-Sonden durch Geräte des US-Konkurrenten Goodrich ersetzen. Dies wird die EASA nach eigenen Angaben nun bald auch formell anordnen.

Auch Airbus ist internen Air-France-Unterlagen zufolge erst spät, nämlich im April 2009, eingeknickt und schlug vor, zu testen, ob die modernere BA-Version der Thales-Geräte besser gegen Vereisung geschützt sei, was das Unternehmen über ein Jahr lang bestritten hat. Im Jahr 2008 hatte Air France nach eigener Darstellung massiv auf technische Verbesserungen gedrängt, nachdem sich die Vorfälle gehäuft hatten. Die Airline hatte zwischenzeitlich auf eigene Faust die alten durch die neueren Geräte ersetzt, nachdem Airbus zwischenzeitlich lediglich eine Feldstudie vorgeschlagen hatte. Dass jetzt beide Thales-Versionen ausgewechselt werden sollen, ist eine späte Kehrtwende des Flugzeugherstellers.

Denn Air France musste inzwischen feststellen, dass auch die Geräte der neuen Generation nicht völlig gegen Vereisung geschützt sind - so waren bei einem Airbus A320 auf dem Flug von Paris nach Rom vor einigen Tagen die Sonden kurzfristig erneut vereist. Die Piloten hätten aber das für diesen Fall verbindlich vorgesehene Verfahren eingesetzt, nach wenigen Sekunden hätten die Geräte wieder zuverlässige Daten geliefert, heißt es offiziell.

Dennoch steht die Unternehmensspitze der französischen Fluggesellschaft seit dem Unfall von AF 447 vor allem intern unter Beschuss. Vier ihrer Pilotengewerkschaften fordern "eine tiefgreifende Reform des Unternehmens", bei der mehr Wert auf die Schulung der Mitarbeiter gelegt werde. Natürlich sind solche Forderungen auch mit Vorsicht zu genießen, weil nur schwer zwischen tatsächlichem Sicherheitsinteresse und gewerkschaftlicher Machtpolitik unterschieden werden kann. Aber fest steht, dass Air France in den vergangenen zehn Jahren drei schwere Unfälle hatte: der Concorde-Absturz im Jahr 2000, die Bruchlandung eines Airbus A340 in Toronto im August 2005 und nun die A330-Katastrophe vor Brasilien. Zu viel für jede Fluggesellschaft.

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