Revolution im Verkehrsnetz:Über den Dächern von Moskau

Lesezeit: 4 min

Asphalt statt Dachziegel: Mit einem neuen Städtebaukonzept will die russische Hauptstadt dem Verkehrschaos begegnen und die Autos auf den Häuserdächern fahren lassen.

Joachim Becker

Morgens um fünf Uhr ist die Welt in Moskau noch in Ordnung. Der Moloch schläft, nur vereinzelt rumpeln rostige Lastwagen über die breiten Ringstraßen, in den Seitenstraßen dösen Polizisten in ihren viel zu kleinen Lada-Limousinen. Für die gut 30 Kilometer vom Flughafen Scheremetjewo ins Zentrum braucht man um diese Zeit weniger als eine Stunde, tagsüber dauert es vier bis fünf Mal so lang. Dass nur vier Kilometer vom Kreml entfernt die neue Moscow City heranwächst, sieht man vom Roten Platz aus nicht - goldene Zwiebeltürme leuchten als perfekte Postkartenidylle im ersten Morgenlicht.

Unter dem Namen El(evated)City plant Roland Lipp einen kreuzungsfreien, kreisförmig fließenden Einbahnverkehr auf mindestens zwei Ebenen. (Foto: Foto: Roland Lipp)

Marodes Verkehrsnetz

Der benachbarte Russia Tower, der in vier Jahren wachsen soll und mit 612 Meter das dann höchste Gebäude Europas sein wird, steht erst auf dem Papier. Die Morgenidylle trügt, denn tatsächlich findet sich um den Roten Platz schon jetzt das teuerste Pflaster der Welt; so sind die Lebenshaltungskosten für Ausländer höher als in Tokio oder London. Viele der 18 Millionen Moskowiter dagegen sitzen die Wohnungsnot in unrenovierten Sozialbauten aus, obwohl die Gewinne im Wohnungsbau "höher als beim Handel mit Drogen" seien, so ein Insider.

Doch so schnell, wie die Menschen aus allen Himmelsrichtungen in die Metropole strömen, kann die Stadt die hässlichen Wohnblöcke gar nicht hochziehen. Auch die Straßen sind hier traditionell eine einzige Baustelle. Früher wurde das marode Verkehrsnetz mehr oder weniger halbherzig geflickt, heute wird es im großen Stil ausgebaut. Das Ergebnis ist dasselbe: Kurz vor acht Uhr geht nichts mehr in der Hauptstadt der Extreme. Die U-Bahnen sind komplett verstopft und auf den bis zu zehnspurigen Ringstraßen herrscht bestenfalls Schritttempo.

PS gleich Prestige

Moskau ist das beste europäische Beispiel für eine Boom-Town, die schneller wächst, als die Stadtplaner nachkommen. Und auch der Automarkt profitiert vom neuen Wohlstand: Mit rund 3,2 Millionen Verkäufen wird Russland 2008 erstmals den bisherigen Spitzenreiter Deutschland überholen. "Der russische Markt wird noch unterschätzt", sagte BMW-Chef Norbert Reithofer kürzlich bei der Vorstellung des neuen Siebener - prompt wurde die Premiere auf dem Roten Platz so pompös inszeniert wie sonst nirgendwo auf der Welt. Ex-Kommunisten haben viel nachzuholen, deshalb zeigen sie sich am liebsten in Chauffeurslimousinen und großen Geländewagen. Die meisten Zwölfzylinder-Topmodelle gehen mittlerweile nach China und Russland.

Der bevorzugte Platz ist dabei nicht hinterm Lenkrad, sondern rechts hinten im Fond. Niemand käme angesichts der verstopften Straßen auf die Idee, dass Autofahren Spaß machen kann. PS gleich Prestige - so die einfache Formel. Und zudem gilt: Mit westlichen Luxusmarken kann man in Stilfragen absolut nichts falsch machen. Also gibt es rund um den Roten Platz die schönsten Showrooms von Bentley, Rolls-Royce, Ferrari & Co. Politiker stehen an der Spitze dieses automobilen Volksbegehrens. Das muss man wissen, wenn man deren hochfliegende Pläne für Null-Emissions-Städte betrachtet.

Ansteigende Blechfluten

China gibt sich als Ausrichter der Expo 2010 besonders grün und präsentiert rund um Shanghai gleich zwei der verkehrsberuhigten Oasen. In Dongtan auf der Chongming-Insel vor der Küste und in Lingang, 60 Kilometer südöstlich der Metropole haben öffentliche Verkehrsmittel Vorfahrt, Autos dürfen wenn überhaupt nur rein elektrisch in die Stadt fahren. Aber die beschaulichen Reißbrett-Siedlungen haben nichts mit der Realität in Chinas wuchernden Millionenstädten zu tun, wo um jede Handbreit Wohn-, Büro- und Verkehrsfläche mit harten Bandagen gekämpft wird. Obwohl die Planer immer neue Schneisen durch die gewachsenen, urbanen Strukturen schlagen, werden sie von den rasch ansteigenden Blechfluten förmlich überrollt. Haben Autos in den Mega-Citys überhaupt noch eine Zukunft?

Die individuelle Massenmobilität droht an ihrem eigenen Erfolg zu ersticken. In Deutschland sind bereits 44 Prozent der Stadtflächen mit Straßen zubetoniert. Wer Natur und frische Luft sucht, zieht aufs Land - um in der Konsequenz die Verkehrsdichte als Pendler weiter zu erhöhen. Der Berliner Stadtplaner Roland Lipp will die Rivalität von Mensch und Auto in Moskau mit einem verblüffend einfachen und radikalen Konzept lösen. Unter dem Namen El(evated)City plant er einen kreuzungsfreien, kreisförmig fließenden Einbahnverkehr auf mindestens zwei Ebenen. Die Straße läuft schallisoliert anstelle des Daches über das Gebäudenetz, auch die Parkplätze sind in die Baukörper integriert, was Platz für Grünflächen, Fußgänger und Radfahrer schafft.

Schnellstraßen statt Kriechspuren

Der Wegfall von Kreuzungen, Ampeln und anderen Hindernissen hat noch weitere Vorteile: Innerstädtische Kriechspuren werden zu Schnellstraßen mit einem Durchschnittstempo von mehr als 50 km/h. Lipp rechnet zudem mit einer CO2-Verringerung bei gleichem Verkehrsaufkommen um mehr als 40 Prozent. Die Grundidee für kreuzungsfreie Verkehrskonzepte ist nicht neu. Bereits Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurden in schnell wachsenden Zentren wie Los Angeles Hochstraßen gebaut, um die ausufernden Verkehrsprobleme zu lösen.

"Heute wird daran gearbeitet, in der zweiten Ebene einen kompletten Lebensraum zu schaffen und die unterschiedlichen Verkehrssysteme zu einem Gesamtkonzept zu vereinen", erläutert Roland Lipp, "sonst kollidieren irgendwann Flächenknappheit mit den hohen Ansprüchen an individuelle Mobilität." ElCity sei günstiger als aufwendige Tunnelprojekte und gleichzeitig eine Alternative zur City-Maut, Einfahrt- und Parkverboten. Außerdem blieben die Stadtflächen als einheitlicher Lebensraum erhalten und würden nicht von Hochstraßen oder Ringautobahnen zerschnitten.

Zehn Kilometer lange Pilotstrecke

Die Moskauer Stadtväter sind dabei, ihre Verkehrsinfrastruktur anhand eines ElCity-Masterplans ernsthaft zu überdenken. In diesem April bestätigte eine eigens gebildete Arbeitsgruppe der Stadtregierung alle Vorteile des Konzepts. Im Mai entschied sich Bürgermeister Jurij Lushkow für die kurzfristige Realisierung einer zehn Kilometer langen Pilotstrecke - geschätztes Investitionsvolumen zirka fünf Milliarden Euro. Zwischen dem rund 36 Kilometer langen, dritten Innenstadtring und dem 109 Kilometer langen äußeren Autobahnring MKAD soll ein kreuzungsfreies ElCity-Verkehrsnetz errichtet werden, auf dem täglich rund eine halbe Million Fahrzeuge unterwegs sein können.

Projekt ElCity-Tempelhof

Auch in Deutschland soll dieses Konzept Realität werden. Die Assoziation StraßenHaus e.V. bereitet derzeit das Projekt ElCity-Tempelhof vor: Auf dem 386 Hektar großen, ehemaligen Flughafengelände könnte die erste Ökostadt entstehen, die den Autoverkehr integriert; trotzdem würden die Grünflächen durch den Wegfall ebenerdiger Straßen um 40 Prozent zulegen.

© SZ vom 02.08.2008/jw - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: