Rettungstechniken auf See:Im freien Fall

In früheren Zeiten musste oft eine Holzplanke genügen - heute werden die Rettungsmittel in der Handelsschifffahrt und an Bord von Kreuzfahrtschiffen immer perfekter.

Klaus C. Koch

Zu früheren Zeiten musste oft eine Holzplanke genügen, um bei Schiffsunglücken den Kopf wenigstens für einige Zeit noch über Wasser zu halten, Rettungsringe und -boote kamen erst später in Mode. Und heutzutage beginnt die Rettung aus Seenot angesichts der schieren Größe der auf den Weltmeeren schwimmenden Kreuzfahrtschiffe, Containerriesen und Tanker schon mal mit einem Sturz aus mehreren Dutzend Meter Höhe - vergleichbar dem Sprung aus dem zehnten Stock eines Hochhauses.

Wenn alles gutgeht, mündet der Fall in Schlauchsysteme, wie sie auch bei Flugzeugunglücken als Notrutsche dienen, oder in nahezu unsinkbaren Miniaturbooten, die aussehen wie Jules Verne's U-Boot Nautilus.

Sie erhöhen zumindest die Chance, in schwerer See zu überleben. Zwar sind die Zeiten vorbei, in denen - wie einst auf der Titanic - die Zugehörigkeit zur Oberschicht oder der Holzklasse darüber entschied, ob noch ein Platz im Rettungsboot frei war oder nicht. Aber trotzdem ist auch heute noch so manches eine Frage des Preises.

Werften und Reedereien meiden das Thema eigentlich gerne. Und Insider kolportieren hinter vorgehaltener Hand, dass viele der an Bord mancher Schiffe vorhandenen Rettungsmittel im Ernstfall womöglich gar nicht, und wenn, dann nur "bei schönem Wetter" funktionieren. Und das trotz der rund 13.000 Kontrollen pro Jahr, die im Auftrag staatlicher Behörden zum Beispiel durch den Germanischen Lloyd, in Häfen und entlang der deutschen Küsten durchgeführt werden.

Überprüft werden dabei neben der Einhaltung von Sicherheitsvorschriften die Beachtung von Umweltbestimmungen und die Arbeitsbedingungen auf den Schiffen. Immer wieder stellt sich heraus, dass vor allem Eigner von Schiffen unter Billigflagge, deren Besatzungen oft aus entlegenen Teilen der Welt stammen, gerne am Nötigsten sparen. Frachter aus Panama, Malta und Liberia führen die Liste der Beanstandungen an.

Seit 1913, ein Jahr nach dem Untergang der Titanic, regelt die internationale UN-Konvention zum Schutz des menschlichen Lebens auf See, genannt Solas, die Mindeststandards bei der Ausrüstung. Unter anderem wird vorgegeben, dass ein Viertel mehr an Rettungsplätzen zur Verfügung stehen muss, als Menschen an Bord sind. Und wie in der Handelsschifffahrt sind auch auf den Kreuzfahrtriesen regelmäßige Rettungsübungen Pflicht.

An ihnen aber nehmen beileibe nicht alle Passagiere aktiv teil. Viele sind, ähnlich wie bei den Sicherheitshinweisen im Flugzeug vor jedem Start, allenfalls zum Zuschauen und zu mehr oder weniger geistreichen Kommentaren über die augenscheinlich gewichtige Kabinennachbarin bereit: "Na, die schlägt uns doch ein Loch ins Floß." Denn so lange nichts passiert ist und die Sorge wächst, ist das Thema nicht sexy.

Anders an Bord der allermeisten Handelsschiffe, die seit längerem mit auffallender Hochtechnologie ausgerüstet werden. Es sind sogenannte Freifallboote, mit denen im Ernstfall innerhalb kürzester Zeit die Besatzung evakuiert werden kann.

Wie die Gondel einer Achterbahn

Von weitem wirken sie wie die Gondel einer Achterbahn oder eines jener zahllosen Karusselle mit Überschlagspotential, wie sie in Freizeit- und Vergnügungsparks zur Freude zahlender Fahrgäste hohe Zentrifugalkräfte entwickeln.

Die geschlossenen, leuchtend-roten Kapseln finden sich am Heck der Schiffe und werden von dort aus abgeworfen. Der Aufprallwinkel aufs Wasser muss bei 45 Grad liegen, damit sich Brems- und Auftriebskräfte in etwa die Waage halten. Im Inneren ist während des Abwurfes die Anschnallpflicht obligatorisch; wer sie nicht beachtet, könnte sich das Genick brechen.

"Wir haben die Kräfte, die auf die Konstruktion einwirken, im Rechner aus jedem Winkel simuliert", sagt Udo Balzereit, Entwickler bei Hatecke, einem Unternehmen mit Sitz in Drochtersen (Niedersachsen), das schon mehrere Hundert dieser Kapseln gebaut hat. Was im Evakuierungsfall die Rettungszeit extrem verkürzt, ist die Tatsache, dass es keine Kranausleger oder Davits mehr braucht, um das Boot zu wassern. Denn: Die Kapsel gleitet auf Metallschienen von Bord und taucht dann ins Meer ein.

Bis zu 72 Personen fassen die in Drochtersen produzierten Rettungseinheiten. Sie bestehen aus einer nahezu unzerstörbaren, hoch widerstandsfähigen Kohlefaserverbundstruktur, die auch dem unbeabsichtigten Sturz auf herumschwimmende Schiffstrümmer standhalten soll.

Zusätzlich findet sich im Innern das Notwendigste, um das Überleben auf hoher See über einen gewissen Zeitraum zu ermöglichen. Dazu gehört Proviant, ein bescheidener Vorrat Trinkwasser, Leuchtraketen und ein Funksender, der Suchmannschaften die schnelle Ortung der Schiffbrüchigen erleichtert.

Im Golf von Aden soll es vor kurzem sogar einem Teil der Besatzung eines von Piraten gekaperten Schiffes gelungen sein, mit einer solchen Rettungskapsel zu flüchten und sich in Sicherheit zu bringen.

Allerdings: Für Passagierschiffe und dafür, in möglichst kurzer Zeit größere Menschenmengen zu evakuieren, sind die Freifallboote eher ungeeignet. Denn um sie ordnungsgemäß besteigen und um das knapp bemessene Platzangebot nutzen zu können, bedarf es mehr als nur einer oberflächlichen Übung. Vor allem aber verlangt es nach einem hohen Maß an Disziplin, das auf Kreuzfahrtschiffen und anderen Vergnügungsdampfern nicht erwartet werden kann.

Die größten Rettungsboot fassen 270 Personen

Auf Kreuzfahrtriesen, bei denen bis zu 6000 Personen an Bord sind, fallen Rettungsmittel und Beiboote, die auch zu Landgängen genutzt werden, zwar immer wuchtiger aus. Die größten von ihnen sind über zwölf Meter lang und fassen bis zu 270 Personen.

Geht jedoch tatsächlich jemand über Bord, scheitert die Rettung oft daran, dass es selbst bei relativ geringem Wellengang nicht gelingt, ihn schnell genug aus dem Wasser zu ziehen. Tatsächlich droht auch beträchtliche Gefahr durch Unterkühlung, die binnen Minuten zum Tod führen kann, sagt Kapitän Peer Lange von der Abteilung Schiffssicherheit der Berufsgenossenschaft für Transport und Verkehr.

Dort bemüht man sich seit Jahren, auf dem Weg über die Internationale Seeschifffahrts-Organisation IMO weltweite Standards und Rettungsgeräte wie den Rescue Star einzuführen - ein sich sternförmig wie ein Regenschirm entfaltendes Netz, das 2009 bei rauer See in der Biskaya erprobt wurde.

Damit können Ertrinkende auch von höheren Bordwänden aus geborgen werden - vergleichbar dem Fischer, der den Fang mit dem Netz aus dem Wasser zieht. Andere Systeme, die in mannshohe Container verpackt wie zusammenklappbare Einkaufswagen aussehen, heißen Sealift oder Squid.

Search- und Rescue-Teams, Küstenwache und die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) wissen aus leidvoller Erfahrung, dass auch die in Actionfilmen gern gesehene Helikopterbergung ihre Tücken hat. Denn werden die zu Rettenden in aufrechter Position aus dem Wasser gezogen, kann es sein, dass sie kurze Zeit später an nachträglichem Kreislaufversagen sterben.

So wie es beispielsweise 14 bereits Geretteten nach der Kenterung der polnischen Fähre Jan Heweliusz 1993 vor Rügen widerfuhr; zu solchen Todesfällen kam es auch bei der Bergung von Estonia-Passagieren 1994 in der Ostsee.

Ein vor einiger Zeit entwickeltes Rescue Shuttle - ein Rettungskorb, der wie ein umgekipptes Eishockeytor aussieht - hievt im Wasser Treibende deshalb liegend an Bord. Spektakulär sieht das nicht aus. Es erinnert eher an James Bond, der nach dem Sieg über das Böse auf einer Rettungsinsel zum gemütlichen Teil übergeht. Aber es rettet Leben.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: