Süddeutsche Zeitung

Rennstrecke Solitude:Schöne Einsamkeit

Einst war die Solitude ein Rennstrecken-Klassiker in Deutschland. Das letzte Formel-1-Rennen fand zwar 1964 statt - doch jetzt erinnert man sich wieder an die legendäre Waldstrecke.

Jochen Arntz

Links und rechts der Strecke steht der Wald, dicht und nah. Der Himmel ist bedeckt, ein wenig Sonne dringt durch das Grau über den Blättern. In den schattigen Ecken der Straße ist der Asphalt noch feucht, aber viele fahren jetzt schon schnell. Hinter den Autos liegt eine lange Gerade, im Rückspiegel ist das gut zu sehen, doch nur fünfzig Meter voraus, da beginnt eine enge Kurve, es geht scharf nach rechts, eine Schikane eigentlich, die sich gleich unvermittelt nach links windet.

Eine alte deutsche Rennstrecke in einer hügeligen Gegend, ein Kurs, der eine eigentümliche Verbindung zwischen Natur und Technik schafft. Lärm und Landschaft, das klingt nach Nürburgring, nach der Nordschleife, die Grüne Hölle genannt wird.

Aber das hier ist etwas anderes, das ist nicht die Eifel; über dieser Strecke hängen Ampeln, und auf dem Teer sind die weißen Mittelstreifen zu sehen, neben der Straße gelbe Ortsschilder, Geschwindigkeitsbeschränkungen und Überholverbote.

Das ist Deutschlands Südwesten, und auf diesen gewundenen Kilometern zwischen Stuttgart und Leonberg fahren die Leute am Montagmorgen zur Arbeit. Manche wissen wahrscheinlich nicht, dass die scharfe Kurve, die Schatten heißt, eine Art Schikane war. Und dass Start und Ziel dieser Rennstrecke dort waren, wo noch heute das alte Häuschen steht: kurz vor dem Glemseck.

Solitude heißt der berühmte Parcours; die Formel 1 fuhr auch hier. 26 Linkskurven und 19 Rechtskurven, 130 Meter Höhenunterschied. Eine Herausforderung. Man nennt das einen Naturkurs, wenn ein Ensemble von Landstraßen eine Rennstrecke bildet. Aber was heißt schon Landstraße in diesem Fall?

Jim Clark, die Formel-1-Legende, durchfuhr die Solitude-Runde 1963 mit einem Durchschnittstempo von knapp 180 Kilometern. Das war Rekord, immer hart am Wald entlang. Heute können und wollen sich das wahrscheinlich nur noch wenige vorstellen in Baden-Württemberg, in diesem Land, in dem das Auto erfunden wurde und das mittlerweile den ersten grünen Ministerpräsidenten dieser Republik hat, Winfried Kretschmann.

Die große Zeit der Solitude ist Geschichte, fast ein halbes Jahrhundert schon. Das Formel-1-Rennen 1964 war eine Katastrophe, ein schwarzes Wochenende der Unfälle und Ausfälle. Und so kam es, dass ein Jahr später die letzten Rennwagen um Rang und Sieg durch schwäbische Täler und hinauf auf die Kuppen fuhren, immer gegen den Uhrzeigersinn, vor Hunderttausenden Zuschauern, die tagelang hier campierten.

Es gibt nicht mehr viele solcher Landstraßen-Rennstrecken in Deutschland, das Schleizer Dreieck in Thüringen zum Beispiel wird noch regelmäßig befahren; ansonsten ist Motorsport eine eher geschlossene Gesellschaft auf sehr sicheren Rundkursen abseits der Straßen. Immer stumpf im Kreis herum, wie Niki Lauda mal so schön gesagt hat.

Vielleicht erklärt das ein wenig die Sehnsucht nach solchen Anachronismen wie der Solitude. Und so gab es in diesem Jahr ein sogenanntes Revival auf der rund zwölf Kilometer langen Strecke durch den Glemswald, nach mehr als vier Jahrzehnten Pause. Mit Hunderten Autos, Oldtimern, Sport- und Rennwagen am Start, organisiert wurde das Ganze von dem 2001 gegründeten Solitude Revival Verein.

Ein Korso auf der Strecke feierte das Jubiläum "125 Jahre Automobil", und die Fahrer der Rallye "Bosch Boxberg Klassik" drehten auch ihre Runden auf dem Kurs. Es waren ein paar Tage wie in einer Zeitmaschine. Und wie das heute so ist, sind die ganzen Rennen festgehalten auf unzähligen YouTube-Filmen im Netz.

Plötzlich ist die Solitude wieder ein Begriff. Auch ein neues Buch feiert in diesem Herbst die alte Zeit in den schwäbischen Hügeln. Es heißt "Racing at Solitude 1949-1965". Es bietet eine Unmenge von Bildern und eigentlich fast überflüssig viele Zahlen, doch man kann nur schwer aufhören zu blättern, weil das Buch von Thomas Mehne (Petrolpics Verlag) Geschichte in Bewegung festhält. In jeder Kurve, an jedem Regen- und Sonnentag der Wettfahrten.

Zum Revival der Rennstrecke im Sommer dieses Jahres war alles abgesperrt; die Ampeln am Weg, sie waren ohne Bedeutung, an der Kurve hinter Start und Ziel standen Tausende Menschen, auch noch hinauf auf die kleine Anhöhe, die Elend heißt, waren sie mitgekommen. Sie standen hinter Strohballen, alles war so wie früher.

Nur dass hier in diesem Jahr keiner schneller als 80 Kilometer pro Stunde fahren durfte, nicht die alten Formel-1-Autos, nicht die Tourenwagen, die Motorräder und die Vorkriegsmodelle. So lautete die Vorgabe der Behörden, an manchen Stellen war sogar nur Tempo 40 erlaubt.

Es gab viel Kritik an der Entscheidung. Und es heißt, weitere Neuauflagen der Solitude-Rennen könnten daran scheitern, dass auf der Strecke nicht jeder so schnell fahren darf wie er will. Aber ist das wirklich wichtig? Wahrscheinlich ist der Streit um Geschwindigkeitsbegrenzungen einfach so klassisch deutsch, wie die alte Rennstrecke es ist.

Alles begann mit dem Schloss Solitude im Westen Stuttgarts, das dem Kurs seinen Namen gab. Schon 1903 gab es Bergrennen für Motorräder hinauf zum Schloss. Später kamen die Autos, Jahr für Jahr wurden die Rennen schneller. Schon damals hatte das Konsequenzen, viele Jahrzehnte bevor Baden-Württemberg grün wählte. 1928 wurden die Autorennen aus Sicherheitsgründen verboten, nur Motorräder durften auf den engen Straßen weiter durch den Wald rasen, auf unterschiedlichen Kursen.

Es dauerte mehr als zwanzig Jahre und einen furchtbaren Krieg lang, bis auch die Autorennen wieder begannen. 1949, im Jahr der Gründung der Bundesrepublik, war es so weit. Und in den wilden Sechzigern, als auf der ganzen Welt alles möglich schien, fuhr dann hier die Formel 1 über die Landstraßen.

Vielleicht kann man mit der Solitude-Strecke auch die deutsche Geschichte ganz gut erklären. Beim Revival in diesem Jahr war ein großes Rennen der Vorkriegswagen dem Fahrer Otto Merz gewidmet. Der Stuttgarter Daimler-Angestellte gewann die Solitude-Rennen in den Jahren von 1924 bis 1927, in der Weimarer Republik also.

Er war da schon ein Überlebender, denn am 28. Juni 1914 fuhr er in Sarajevo in einem Mercedes in der Kolonne des Erzherzogs Franz Ferdinand. An jenem Tag, an dem das Attentat auf den Erzherzog verübt wurde. Es war die Tat, die den Ersten Weltkrieg auslöste. Merz hatte noch versucht, den Erzherzog zu retten. Vergeblich. Im Jahr 1933, dem Jahr, in dem Hitler an die Macht kam, starb Otto Merz in Berlin. Bei einem Trainingsunfall auf der Avus.

Zuletzt, in den sechziger Jahren, kurz bevor die Strecke vor den Toren Stuttgarts geschlossen wurde, war das Wirtschaftswunder auch auf der Solitude angekommen, die schöne deutsche Nachkriegszeit. Porsche beispielsweise stellte auf dem alten Asphalt neue Modelle des Unternehmens vor, ganz sportlich am Start- und Zielhäuschen.

Und selbst heute sind die zwölf Kilometer durch den Wald noch immer ein Zeichen dafür, wie sich die Welt verändert - und wie auch nicht. Es gibt sie ja immer noch, diese alten schnellen Straßen in Deutschland, mitten in der Natur, manchmal menschenleer.

In einer hochverdichteten Zeit können die Kurven durch das Mahdental, gefahren an einem stillen Herbsttag, ein seltsam angenehmes Gefühl der Solitude erzeugen: ein Gefühl der schönen Einsamkeit, der Abgeschiedenheit. Denn nichts anderes heißt dieses Wort ja auf Deutsch. Und das schon lange, bevor die Motoren in den Glemswald kamen.

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Quelle:
SZ vom 31.10.2011/gf
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