Reform des Euro NCAP:Gegen die Wand

BMW i3 beim Euro NCAP-Crashtest.

Jedes in Europa angebotene Auto muss den Euro NCAP über sich ergehen lassen. Auch Elektroautos wie der BMW i3.

(Foto: Euro NCAP)

Der Euro NCAP, Europas wichtigster Crashtest, wird reformiert. An einigen Stellen ist das dringend nötig, doch Experten gehen die Neuerungen nicht weit genug.

Von Steve Przybilla

Für Dummys ist es keine gute Nachricht. Sie knallen auch weiterhin gegen starre Barrieren, überdehnen ihre künstlichen Nacken, durchleiden einen Unfall nach dem anderen. Menschliche Fahrzeugnutzer dürfen sich dagegen freuen, wenn Europas wichtigster Crashtest, der Euro NCAP, in den nächsten Jahren behutsam reformiert wird. Neue Bewertungskriterien und Pluspunkte für Assistenzsysteme sollen Hersteller dazu animieren, mehr Geld in die Sicherheitsausstattung zu stecken.

Hinter dem Euro NCAP steht ein europäischer Verein, in dem zwölf staatliche Behörden und Automobilklubs vertreten sind, darunter das Bundesverkehrsministerium und der ADAC. "Mit unseren Tests wollen wir die Industrie anspornen", sagt Euro-NCAP-Präsident André Seeck. Schließlich wolle jeder die Bestnote von fünf Sternen erreichen.

Bisher ist das offenbar kein Kunstwerk: Rund zwei Drittel aller getesteten Fahrzeuge erhalten fünf Punkte - für Kunden ist eine Unterscheidung also kaum noch möglich. In Zukunft soll es deshalb strenger zugehen. Schon ab diesem Jahr fließen Spurhaltesysteme und Notbremsassistenten für den Stadtverkehr (bis 50 km/h) in die Bewertung ein. Zusatzpunkte dafür gibt es aber nur, wenn die Insassen durch die Notbremsung kein Schleudertrauma erleiden. "Aktive und passive Sicherheit sollen nicht gegeneinander aufgewogen werden", erklärt Seeck.

Viel Aufwand, wenig Durchblick

Ähnlich aufwendig verläuft die gesamte Benotung. Um zur Gesamtnote zu kommen, werden vier Kategorien (Sicherheit erwachsener Insassen, Sicherheit von Kindern, Fußgängersicherheit und Assistenzsysteme) unterschiedlich gewichtet. Es gibt aber viele Ausnahmen. Ein Beispiel: Seit 2011 müssen Neuwagen in der EU mit einem elektronischen Stabilitätssystem (ESP) ausgestattet sein. Im Euro-NCAP-Test ist dies schon seit 2009 der Fall. Andernfalls kann man beim Endergebnis keine fünf Sterne erringen - selbst wenn es rechnerisch aufginge.

Mehr Durchblick könnte eine Doppelnote (Dual Rating) bringen, über die das Euro-NCAP-Gremium derzeit diskutiert. Kommt sie, werden ab 2016 immer zwei Ausführungen eines Autos geprüft: das einfache Modell mit Serienausstattung sowie die Premiumvariante mit (kostenpflichtigem) Sicherheitspaket. Die Hoffnung der Unfallforscher: Weil Hersteller in beiden Kategorien gut abschneiden wollen, entwickeln sie auch für Kleinwagen passende Assistenzsysteme.

Finger weg vom heißen Eisen

Ob diese Rechnung aufgeht, ist selbst innerhalb der Prüforganisation umstritten. Genauso gut könnten Hersteller künftig nur noch mit der besseren Bewertung werben - und verschweigen, dass im Einstiegsmodell das hochgelobte Sicherheitspaket gar nicht serienmäßig verbaut ist. Deshalb wird es mindestens noch zwei Jahre dauern, bis das Dual Rating eingeführt wird - falls es überhaupt geschieht.

Ein wirklich heißes Eisen packt das Gremium erst gar nicht an: den sogenannten Small-Overlap-Test. Der ist in den USA längst üblich und lässt Autos mit nur einem Scheinwerfer gegen ein Hindernis prallen. Im Alltag passiert das zum Beispiel bei Unfällen mit Bäumen oder Laternenpfählen. Aufmerksamkeit erregte der Test vor zwei Jahren, als Autos, die beim Euro NCAP stets gut abgeschnitten hatten, in den USA kläglich scheiterten. Volker Sandner vom ADAC-Sicherheitszentrum Landsberg bedauert, dass der Baum-Unfall beim Euro NCAP noch nicht vorkommt. "Solche Szenarien passieren hier natürlich auch", sagt der Fahrzeugtester.

Unterschiedliche Standards, faule Kompromisse

Der Small-Overlap-Test ist nur ein Beispiel von vielen. Weltweit unterscheiden sich Crashtests nicht nur - manchmal widersprechen sie sich geradezu. In den USA, noch immer ein Land der Gurtmuffel, müssen Dummys einen Unfall auch unangeschnallt überstehen. Der Euro NCAP lässt wiederum nur Fahrzeuge derselben Klasse aufeinandertreffen. So können sowohl ein Kleinwagen als auch ein SUV die Bestnote erhalten, obwohl der Kleinwagen im Ernstfall natürlich schlechtere Karten hätte. Autokonzerne, die ihre Produkte weltweit verkaufen, müssen also versuchen, möglichst allen Crashtests gerecht zu werden. Dass dabei faule Kompromisse entstehen, ist vorprogrammiert. Vom World-NCAP, einem weltweit gültigen Standard für Crashtests, ist man jedenfalls weit entfernt.

Doch es gibt auch Fortschritte. So werden beim Euro NCAP ab 2015 Seitenaufprallunfälle im realistischeren 75-Grad-Winkel simuliert - und nicht mehr im rechten Winkel wie bisher. Auch beim Frontalunfall ändert sich nächstes Jahr das Szenario. Dann werden Autos mit der kompletten Schnauze gegen ein Hindernis fahren - bisher waren es nur 40 Prozent. Insofern bewegt sich der Euro-NCAP- sogar noch weiter weg vom amerikanischen Small-Overlap-Test als bisher. "Weil unser Szenario das realistischere ist", beteuert Euro-NCAP-Präsident Seeck.

Mehr Sicherheit für Fußgänger

Bei den Frontalunfällen knallen die Testfahrzeuge momentan mit 64 km/h gegen die Barriere. Erhöhen möchte Seeck diese Geschwindigkeit nicht. "Wenn wir das tun, würden die Hersteller steifere Karosserien bauen, um im Test besser abzuschneiden. Das wäre für Fußgänger gar nicht gut." Langfristig werde sich die Geschwindigkeit womöglich sogar verringern. Seeck: "Die Statistik spricht für Rücksichtnahme."

Auch sonst geraten Fußgänger stärker ins Blickfeld der Prüfer. Ab 2016 müssen Notbremssysteme Situationen meistern, in denen Passanten plötzlich auf die Straße laufen. Außerdem kommt eine neue Generation von Dummys und nachgebauten Körperteilen zum Einsatz. Zum Beispiel der Flex-PLI, ein mit Sensoren vollgestopftes Roboterbein, das im Crashtest angefahren wird. "Es enthält flexible Knochenbereiche und ein Knie, das dem menschlichen sehr ähnelt", schwärmt Dirk-Uwe Gehring, Dummy-Experte bei der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt). Das neue Modul ermögliche "viel genauere Messungen" als bisher.

So fortschrittlich die Crashtests aber auch ablaufen: Manche Unfallforscher würden sie gerne noch realistischer machen - und mit Toten experimentieren, um Leben zu retten. "Postmortale Testobjekte liefern immer noch die genauesten Ergebnisse", sagt ein Insider, der anonym bleiben möchte. Gemeint sind Leichen, die der Wissenschaft zur Verfügung gestellt werden. "Dazu wird es beim Euro NCAP aber niemals kommen", beruhigt der Experte. "Die Europäer sind viel zu sensibel bei diesem Thema."

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