Süddeutsche Zeitung

Fahrradwege:Sobald es schneit, sind Radfahrer benachteiligt

Immer mehr deutsche Städte wollen den Radverkehr fördern. Doch im Winter werden Radwege kaum geräumt - und die Schlitterpartie beginnt. So wie derzeit in München.

Von Felix Reek

"Ich verzichte in München bewusst aufs Auto, für mich ist das ist eine Umweltentscheidung. Und das Fahrrad ist das perfekte Mittel, um dem Verkehrschaos zu entkommen", sagt Tobias Singer. Er ist dreifacher Vater und das ganze Jahr mit dem Rad unterwegs. Sechs Kilometer fährt er bis zu seiner Arbeitsstelle und sechs Kilometer wieder zurück. Nicht nur im Sommer, wenn viele Menschen auf das Auto verzichten. Auch im Winter, bei Eis und Schnee. Davon gab es in dieser Saison besonders viel. Waren die vergangenen Winter in München vergleichsweise milde, so schneite es bereits im Dezember stark. Eigentlich sollte das kein Problem sein, hat sich die bayerische Hauptstadt doch vorgenommen, "Radlhauptstadt" zu werden. Doch davon merkt Tobias Singer nicht viel. "Das klingt zwar gut, aber im Winter ist es eine Schlitterpartie", sagt er. "Sobald Schnee fällt, brauchen die Räumarbeiten ewig. Die Straße ist frei und die Radwege sind alle zu."

Das bestätigt auch Martin Glas vom Allgemeinen Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) München. "Die Stadt hat sich viel vorgenommen - nur klappen tut das nicht so richtig. Viele Radwege werden eher als Schneeablageplatz verwendet und eben nicht geräumt. Der Anspruch in München und das was auf der Straße ankommt, klafft weit auseinander." Diesen Eindruck teilen viele Radfahrer - auch in anderen Städten. Wer sich in den sozialen Medien umschaut, findet überall Bilder von verschneiten und vereisten Radwegen. Umfragen des ADFC zu diesem Thema führen zu verheerenden Ergebnissen. Dabei wird Radfahren auf dem Weg zu klimafreundlicheren Städten immer wichtiger. In München soll der Anteil am Gesamtverkehr bis 2020 auf 20 Prozent wachsen. Dafür ist es unabdingbar, dass Menschen das Fahrrad auch im Winter als Verkehrsmittel nutzen. Das müssen sie aber als "komfortabel" empfinden, sagt Stephanie Krone, die Pressesprecherin des ADFC. "Dass Radwege breit und in gutem Zustand sind und auch im Winter geräumt werden, damit steht und fällt der Erfolg des Fahrrads als ganzjähriges Verkehrsmittel." In den Niederlanden, wo es eine geradezu ideale Infrastruktur gibt, fällt der Anteil der Radpendler in der kalten Jahreszeit nur um 20 Prozent. Für Deutschland gibt es ausschließlich Schätzungen. Mindestens 50 Prozent weniger sind es laut Stephanie Krone.

Für das Räumen sind die Gemeinden zuständig - und die Anlieger

Ein Grund dafür ist laut ADFC die mangelnde Qualität bei der Räumung der Radwege. Eine deutschlandweite Regelung gibt es nicht. Wann und wo der Winterdienst zum Einsatz kommt, ist im jeweiligen Regelwerk der Städte, Gemeinden und Kommunen festgelegt. Wenn es um öffentliche Straßen und Radwege geht, sind unterschiedliche Träger verantwortlich. Das können Bundesländer, Landkreise, Städte und Kommunen sein. Die wiederum dürfen den Winterdienst auf private Firmen übertragen. Öffentliche Fußwege zu räumen, ist Aufgabe der Anlieger - auch wenn sie mit einem Fahrradweg kombiniert sind. Wie schnell eine Gemeinde die Radwege von Schnee und Eis befreit, ist davon abhängig, welche Gewichtung das Radfahren in den jeweiligen Städten hat. In Dortmund beispielsweise gibt es 650 Kilometer Radwege, 100 davon werden geräumt. Die Studentenstadt Münster befreit 360 von 475 Kilometern vom Schnee. Wenn es dort mal schneit.

Drängender ist das Problem in München. Die Stadt priorisiert wie die meisten Träger der Straßenbaulast, so die offizielle Bezeichnung, den Winterdienst. Das heißt, Vorrang haben Hauptrouten, also wichtige Strecken für den Verkehr. Zum Beispiel, weil sie während der Stoßzeiten besonders hoch frequentiert sind. Oder viel befahrene Hauptstraßen, gefährliche Stellen, Fußgängerüberwege und Buslinien. Danach folgen die Nebenstrecken.

Zwar hat München in den letzten Jahren den Winterdienst auf Radlerstrecken immer mehr ausgebaut, von einer Priorisierung kann aber keine Rede sein. 110 Kilometer des insgesamt 1000 Kilometer langen Radwegnetzes (inklusive Grünanlagen und Freizeitwegen) gelten als Winterrouten, also stark frequentierte Routen entlang der Hauptstraßen, die sternförmig ins Zentrum laufen. Sie werden bei Schneefall innerhalb von zwei Stunden geräumt, bei Glatteis in anderthalb Stunden, so Florian Paul, der Radverkehrsbeauftragte der Stadt. Die 65 Fahrradstraßen der Stadt folgen innerhalb von drei Stunden. Schneit es noch einmal nach der Ersträumung, haben die Mitarbeiter des Baureferats 24 Stunden Zeit, um erneut auszurücken.

Um den Radverkehr im Winter wirklich zu fördern, ist das aber immer noch zu wenig. Die wenigsten Fahrrad-Pendler bewegen sich nur auf den Hauptrouten. Der Vorteil des Fahrrads ist gerade, dass es dort unterwegs sein darf, wo Autos nicht fahren, und so Wege verkürzt. Das belegt eine Studie des Umweltbundesamtes. Sie besagt, dass bis zu einer Entfernung von fünf Kilometern das Fahrrad das schnellste Verkehrsmittel in der Stadt ist. Sind, wie in München, aber nur zehn Prozent der Radwege geräumt, schwindet dieser Vorteil und damit der Anreiz, das Auto stehen zu lassen. Wer mit dem Velo unterwegs ist, weicht auf die Straße aus - oder lässt es lieber gleich stehen.

Der Wunsch, den Radverkehr zu fördern, ist also vor allem auch ein Strukturproblem, das im Winter besonders deutlich zutage tritt. Das Sammelsurium an Radwegen in vielen Städten ist kurios. Sie sind oft schmal, nicht deutlich genug von der Fahrbahn abgetrennt, manchmal teilen sie sich den Asphalt mit dem Gehweg. Im Winter heißt das, dass der Schnee des Räumdienstes genau dort landet, wo die fragilsten Verkehrsteilnehmer unterwegs sind. Und der rutschige Rollsplitt, der aus Umweltgründen statt Salz gestreut wird, bleibt oft bis ins Frühjahr liegen. Deswegen fordern Interessenverbände wie der ADFC schon lange, die Prioritäten zu ändern. Auch Passionsradler Tobias Singer sagt: "Man kann es den Leuten einfacher machen, aufs Auto zu verzichten."

Kopenhagen zieht Fahrräder konsequent Autos vor

Das Vorbild hierfür ist, wie so oft, Kopenhagen - weltweit das Schlaraffenland für Radfahrer. Es gibt 375 Kilometer ausgebaute Fahrradwege, oft doppelt oder dreimal so breit wie in Deutschland, abgetrennt durch Bordsteine. An Ampeln halten die Radler einige Meter vor den Autos, damit sie nicht von Lkws übersehen werden. Grüne Wellen leiten sie vor den Autofahrern durch den Verkehr. Selbst die Mülleimer neigen sich den Drahteseln und ihren Besitzern entgegen. Und: Im Winter werden Radwege zuerst geräumt.

Das alles ist Teil eines Planes der dänischen Hauptstadt, bis 2025 CO₂-neutral zu sein. 35 Euro pro Einwohner gibt Kopenhagen im Jahr für den Radverkehr aus, Stuttgart, das vergleichbar groß ist, nur fünf. 62 Prozent der Pendler steigen dort mittlerweile täglich aufs Rad - im Winter sind es nicht viel weniger. Der Grund dafür ist aber kein stärkeres Umweltbewusstsein als in Deutschland. "Wir sind nicht grüner als alle anderen und genauso faul wie ihr", erklärt der ehemalige Umweltbürgermeister Morten Kabell. "Wir haben aber dafür gesorgt, dass in dieser Stadt nichts praktischer ist als zu radeln." Deutschland ist davon noch weit entfernt. Zumindest solange "Radlhauptstadt" vor allem ein Slogan ist.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels haben wir Kopenhagen fälschlicherweise als norwegische Hauptstadt bezeichnet. Kopenhagen ist natürlich die Hauptstadt Dänemarks.

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