Radfahren in Städten:Pekings Radfahrer holen sich die Stadt zurück

China's bike-sharing users peddled 30 billion km in 2017

Blau, gelb, orange: Auf den Straßen von Peking sind Millionen von Leihrädern unterwegs.

(Foto: Chen xiaogen - Imaginechina)

Vom Auto fast verdrängt, erlebt das Rad in der chinesischen Hauptstadt eine Renaissance. Dabei helfen Millionen von Leihmodellen und - Sensation! - Radwege, auf denen wirklich nur Fahrräder fahren dürfen.

Von Kai Strittmatter

Die fliegende Taube, der Gigant und das kleine Gelbe. Sie haben mich begleitet durch diese zwei Jahrzehnte. Haben mich getragen, unter mir geächzt, mit mir gerungen und mich das eine oder andere Mal auch abgeworfen. Naja, einmal, um genau zu sein, das war das kleine Gelbe, ist noch nicht lange her. Es lag ziemlich sicher an den Vollgummireifen. Ich war mit einigem Tempo auf den Gehsteig ausgewichen, weil mich auf dem Radweg ein BMW und ein E-Moped in die Zange nahmen. Gut, ich war gegen die Fahrtrichtung unterwegs. Aber das waren ein halbes Dutzend andere neben und hinter mir auch, in Peking ist das so Usus, hier entscheidet insbesondere auf dem Radstreifen nicht selten die Mehrheit der sich gerade in einem Planquadrat befindlichen Fahrer, was nun gerade Fahrtrichtung ist. Ich war dann der einzige, dessen Reifen abrutschten und der auf den Asphalt knallte.

Zwei Jahrzehnte in Peking, zwanzig Jahre auf dem Rad. Die "fliegende Taube" habe ich mir 1997 gekauft. Fahrraddämmerung war damals, auch wenn wir alle es noch nicht richtig wahrnahmen: Die Autos knabberten da erst an den Rändern des Lebensraumes, noch zaghaft. Peking war lange ein Paradies für Radler: Flach wie ein Pfannkuchen, trocken wie die nahe Wüste Gobi. Und Radwege so breit wie anderswo Autobahnen.

SZ-Korrespondenten - mit dem Rad unterwegs

Das Fahrrad als Verkehrsmittel - wie wird es in Ihrer Stadt genutzt, was funktioniert gut, woran hapert es? Diese Fragen haben wir den Auslands-Korrespondenten der SZ gestellt, ihre Texte dazu lesen Sie hier und alle Teile der Serie unter Radfahren in Städten.

Als sich China der Welt öffnete, in den Achtzigerjahren, da träumten die Chinesen von den "vier großen Dingen", die ein jeder zu seinem Glück brauchte, das waren eine Armbanduhr, ein Radio, eine Nähmaschine - und ein Fahrrad. Man konnte noch eintauchen in den endlosen Radlerschwarm, sich treiben lassen im meditativen Fluss durch die Stadt.

Die Räder der Marken "fliegende Taube" waren, wie auch die "Ewigkeit" und der "Phönix", schon damals eher etwas für Nostalgiker: der schwere schwarze Rahmen, die klappernden Bremsen, die porösen Schläuche. Es waren jedoch majestätische Erscheinungen aus einer anderen Zeit, und wenn ich meine schwarze Taube bestieg, dann richtete ich mich unwillkürlich auf. Alle paar Hundert Meter allerdings hatte einen dann die Erde wieder: Man blieb liegen, mit einem Platten oder weil mal wieder ein Teil der Bremse leise klirrend über den Asphalt hüpfte, aber das machte nichts, weil alle paar Hundert Meter ein Reparateur saß, dem man vor die Nase fiel: Wahre Meister der Improvisation waren das, die die Räder in Nullkommanichts wieder zum Laufen brachten. Selber pumpen durfte man auch, kostete 1 Yuan, umgerechnet heute knapp 10 Cent.

Als ich das zweite Mal nach Peking kam, 2012, da war die Stadt eine andere geworden. Da liebten die Chinesen ihre Autos schon so wie die Dänen ihre Fahrräder. Da hatte die junge Teilnehmerin einer Kuppelshow im chinesischen TV Schlagzeilen gemacht mit dem Satz: "Lieber sitze ich weinend auf dem Rücksitz eines BMW als lachend auf dem Fahrrad." Peking war fast über Nacht zur Radl-Wüste geworden. Die Pekinger selbst saßen zu einem großen Teil umverpflanzt in neuen Trabantenstädten außerhalb, weit weg von der Arbeitsstelle, und der bleierne Smog vertrieb auch den verbliebenen Fahrradenthusiasten die Lust.

Es gab noch einzelne Fahrradläden, aber die verkauften praktisch nur mehr Mountainbikes und Rennräder für die Ausflüge der Hobbysportler in die Berge, normale Räder für die Stadt bot kaum einer mehr. Offiziell gab es noch immer ein Netz von Radwegen so groß wie wahrscheinlich nirgend sonst auf der Welt. Bloß waren die nicht mehr als solche erkennbar. Sie dienten den Bussen als Haltestelle, den Autos als Überholspur, und sie wurden als Parkplätze vermietet.

Und so bahnten wir einsamen Radler uns die folgenden Jahre unseren Weg im Slalom zwischen parkenden Audis und rechts überholenden SUVs, von vorne eingehüllt in Feinstaubschwaden, von rechts bestaunt von kopfschüttelnden Fußgängern, von hinten attackiert von so pfeilschnell wie lautlos heranschießenden E-Bikes: Ein jeder von uns ein kleiner Don Quixote, ein Radler von der traurigen Gestalt, leise hustend und fluchend Haken und Purzelbäume schlagend. Wir alle: die letzten unserer Art.

Das Fahrrad soll in Peking die Lösung für "die letzte Meile" sein

Das mit dem Hakenschlagen ist bis heute so. Das mit dem Fluchen auch. Und doch hat sich Entscheidendes geändert: Die Flüche ertönen heute wieder hunderttausend- und millionenfach. Seit zwei, drei Jahren sind die Fahrräder zurück in der Stadt. Es ist heute mehr asthmatisches Strampeln als majestätisches Gleiten. Aber immerhin. Nun radeln sie wieder. Kaum noch einer aber auf seinem eigenen Rad: Es hat Räder geregnet über Chinas Städten, Millionen von ihnen, grüne, blaue, pinke, orangene, graue und gelbe.

Der Münchner Aufschrei im vergangenen Jahr über den "Saustall", den die Singapurer Firma Obike mit ihren Leihrädern an der Isar angerichtet hatte, wirkt aus Pekinger Sicht putzig: In München standen zum Höhepunkt der Aufregung 7000 Obikes. In Peking drängten sich zur gleichen Zeit 2,3 Millionen von den Dingern: Hellobikes, Unibikes, Mobikes, Ofos und weitere Marken. Alles keine Propheten der nachhaltigen Mobilität, sondern Glücksritter der Start-up- und Investmentbranche.

Noch macht sich auf Radwegen allerhand Motorisiertes breit. Die Regierung will das ändern

Das hinderte die Nachrichtenagentur Xinhua nicht daran, das Bike-Sharing - neben E-Commerce, Fin-Tech-Anwendungen und Hochgeschwindigkeitszügen - zu einer der "vier neuen großen Erfindungen Chinas" hochzujubeln (ungeachtet der Tatsache, dass China kein einziges der vier Phänomene erfunden hat). Mittlerweile ist Ernüchterung eingekehrt: Die Volkszeitung beklagte unlängst erst die "Gebirge" von Alu-Schrott, die sich als Folge der Radl-Flut in ganz China auftürmen.

Es bleibt ein Streifen Hoffnung. Weil die Pekinger, die "alle schon vergessen hatten, wie man Fahrrad fährt" (so eine Forscherin vom Verkehrsministerium im letzten Jahr), das Radeln wieder entdeckt haben. Und die Stadtregierung angesichts des alltäglichen Verkehrskollapses auch. Wenngleich das Radfahren, anders als früher, weit bescheidener nur mehr die Lösung für "die letzte Meile" sein soll, wie das die Verkehrsplaner nennen, also für den Weg vom U-Bahnhof zum Arbeitsplatz zum Beispiel.

Es gibt nun hehre Versprechen: Einen "Fahrrad-Highway" von mehr als sechs Kilometer Länge im Universitätsviertel Haidian soll zum Beispiel entstehen, ein Weg, auf dem - Sensation! - wirklich nur Fahrräder fahren dürfen sollen. Die Regierung hat auch versprochen, dem Radl-Volk seine vielen Hundert Kilometer Radwege zurückzugeben, auf denen sich bis heute allerhand Motorisiertes breit macht. Doch bislang ist davon noch nicht viel zu spüren.

Billig und praktisch sind sie, die neuen Räder, ich fuhr zuletzt abwechselnd Mobike und Ofo. Die Ofo-Räder, das sind auf Chinesisch "die kleinen Gelben". Zu fahren sind die Billiggestelle eher mühsam, vor allem, wenn man mehr als 1,80 Meter misst und länger als fünf Minuten unterwegs ist. Und wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich in Anlehnung an die "vier großen Dinge" bescheiden für die "vier kleinen Dinge" werben, die mir zu meinem Glück fehlen. Liebes Mobike, liebes Ofo: ein Vorderlicht, ein Rücklicht, eine Bremse, die auch funktioniert, und eine Klingel, die auch wirklich klingelt, das wäre toll. Ansonsten: läuft schon. Wir werden wieder mehr. Tag für Tag.

In dieser Serie beleuchtet die SZ in loser Folge die Situation des Radverkehrs in den großen Städten der Welt. Zuletzt erschienen: Zürich (15.9.), Warschau (22.9.), Wien (29.9.), London (6.10.). Alle Folgen unter www.sueddeutsche.de/stadtradler.

Zur SZ-Startseite
Preparations For Prince Felipe's Coronation

Radfahren in Städten
:Madrid hat die Verkehrs-Machos gezähmt

Radfahren in der spanischen Hauptstadt war ein gefährliches Abenteuer. Nach einem Umbau der Infrastruktur und einem Erziehungsprogramm für Autofahrer hat sich das geändert.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: