Probleme im Gotthard-Basistunnel:Schon Schneeflocken lösen Alarm aus

2016 soll die längste Eisenbahnröhre der Welt fertig sein. Die beiden neuen Zugtunnel am Gotthard sind beeindruckend, doch sie sind auch extrem störungsanfällig. Die Sicherheitsvorkehrungen sind zu scharf. Das hat beträchtliche Folgen.

Klaus C. Koch

Wer von Stuttgart aus mit einer Turboprop den Alpenhauptkamm nach Mailand überquert, hat bei schönem Wetter ein atemberaubendes Panorama unter sich. Weil die Propellermaschine relativ langsam und deutlich niedriger als ein Düsenjet fliegt, ziehen Zürich, Luzern, der Vierwaldstätter See und der Lago Maggiore in Zeitlupentempo und malerischer Schönheit am Auge des Betrachters vorbei.

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Am 15. Oktober 2010 gelang einem riesigen Bohrer der Durchbruch zum längsten Tunnel der Welt.

(Foto: AFP)

Nicht zu übersehen sind allerdings auch die gigantischen Baustellen auf den Zufahrtsstrecken zum Gotthard, unter den die Schweiz den Transitverkehr aus den EU-Ländern von der Straße auf die Schiene zu verlagern sucht. 2016 soll die längste Eisenbahnröhre der Welt fertig sein.

Unterdessen läuft am Lötschberg die kleinere der zwei neuen Röhren, die mit einem Aufwand von insgesamt 20 Milliarden Franken durch den Berg gebohrt wurden, schon seit einiger Zeit auf vollen Touren - obwohl die Züge auch hier zum Teil noch einspurig rollen, weil die Doppelspur zu teuer war. Die momentane Auslastung lässt erahnen, dass auch nach 2016 die Kapazitäten kaum reichen werden, um den Ansturm von Millionen Lkw aufzufangen.

Christian Senn führt Besuchergruppen durch das zurzeit weltweit modernste System an Tunnel-, Zufahrts- und Serviceröhren am 34,7 Kilometer langen, wegen seiner geringen Steigung sogenannten Basistunnel am Lötschberg. Gerne erzählt er die Geschichte von dem Lokführer der Basel-Lötschberg-Simplon-Bahn (BLS), den er kürzlich am Stammtisch traf. Er fragte ihn, ob er mit der neuen Röhre zufrieden sei. Der zeigte ihm zur Antwort nur den kleinen Finger der rechten Hand. Was man leicht für eine obszöne Geste hätte halten können, sollte schlicht erklären, dass er kürzlich einen kompletten Güterzug wegen eines Astes stoppen musste, der nur so groß wie sein kleiner Finger war. Der Zweig war während der Fahrt durchs Voralpenland auf einen der Waggons geraten, und ragte nun - auf einem Monitorbild in der Betriebszentrale als Schatten erkennbar - über das Waggonprofil hinaus.

Die Sicherheitsvorkehrungen am Lötschberg sind so scharf, dass selbst bei einer solch harmlosen Gelegenheit ein 3D-Scanner Alarm schlägt, der einige Kilometer vor dem Tunnel Umriss und Normprofil der Güterzüge erfasst und mit dem Durchmesser der Eisenbahnröhre vergleicht. Aus Angst vor Störfällen sind die elektronischen Geräte so empfindlich eingestellt, dass auch der Schnee im Winter schon wieder zum Problem wird.

Ursprünglich darauf geeicht zu erkennen, ob Gegenstände, möglicherweise die Plane eines Lastwagens, Gitterstäbe oder Metallteile in den Fahrweg ragen, sind im Schneegestöber oft auch schon die Schneeflocken groß genug, um einen Fehlalarm nach dem andern auszulösen.

Die Notfälle häufen sich

Ohnehin ist der Ernstfall in diesem Teil der Alpenschleuse schneller eingetreten, als gedacht. Nicht nur, dass vor kurzem tatsächlich ein Intercity gestoppt und die Passagiere durch einen zweiten Zug über einen Nothalt im Tunnel evakuiert werden mussten. Wärmedetektoren hatten gemeldet, dass eine Wagenbremse heißgelaufen war. Wegen eines Lawinenabgangs musste kürzlich auch der Betrieb auf der Bergstrecke am Gotthard für mehrere Wochen eingestellt werden. Am Lötschberg taten sie ihr Bestes, um den Umleitungsverkehr aufzufangen. Doch die Situation zeigt, dass die neuen Alpentransversalen das Problem extremer Anfälligkeit für kleinere und größere Ursachen mit sich bringen, die im Zweifel schnell beträchtliche Auswirkungen haben.

Von dem im Wallis gelegenen Städtchen Brig aus betrachtet nehmen sich die Sattelzüge, die sich - statt den Eisenbahntunnel zu wählen - den steilen Straßenpass zum Simplon hinaufquälen, wie eine Kolonne riesiger Ameisen aus. Dieses Bild wird sich in nächster Zeit vermutlich noch des Öfteren bieten. Denn der über 125 Jahre alte Simplontunnel muss dringend erneuert werden. Er steht exemplarisch dafür, dass zwar die neuen Röhren, nicht aber deren Zulaufstrecken über die von der EU geforderten Maße, nämlich vier statt der lange für ausreichend erachteten 3,85 Meter Höhe verfügen, um die Lastzüge auf Tiefladewaggons Huckepack nehmen zu können. Die steuern dann stattdessen die mühsam zu bewältigende Bergstrecke an. "Wir können den größten Tunnel der Welt haben", sagt Bernhard Kunz, Chef der auf die Verladung von Lastern auf die Schiene spezialisierten Hupac-Gruppe, "aber wenn wir im Norden und Süden nur ungenügende Anschlüsse haben, nützt uns das gar nichts."

Das betrifft die Italiener, die zu wenig Terminals für die Verladung auf die Schiene besitzen, aber genauso die Deutschen. Bei ihnen könnte der Ausbau der Rheintalstrecke durch die Einsprüche wegen des Zuglärms bei Offenburg "zwei bis vier Jahre Verzögerung" zur Folge haben, glaubt die Schweizer Verkehrsministerin Doris Leuthard. Bei der BLS sollen bis 2015 sämtliche Güterwaggons mit Flüsterbremsen ausgestattet sein. Aber sie machen lediglich einen Bruchteil des Gesamtaufkommens aus.

So bleibt weiterhin Spielraum für Lastzug-Rekorde inmitten der Berge. Im Zugangsstollen Mitholz der BLS stellte kürzlich ein Baustellen-Lastwagen alles bisher Dagewesene in den Schatten: Nachdem er die 50 Meter lange Luftschleuse passiert hatte, raste er auf einem geraden Teilstück des Servicetunnels mit Vollgas durch die Röhre. Die BLS hatte wissen wollen, ob sich die eigenen Baustellenfahrzeuge im Tunnel an die Geschwindigkeitsbeschränkungen halten und Kontrollen veranlasst. Das Radar meldete stolze 110 km/h.

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