Süddeutsche Zeitung

Polestar 2 gegen Audi E-tron Sportback S:Erstaunlich ausgereift

Der Polestar 2 der Volvo-Tochter ist ein Elektroauto, das sich selbst vor Tesla nicht verstecken muss. Der Audi E-tron S hingegen bietet vor allem Altbekanntes: viel Platz, viel PS und viel Traktion.

Von Joachim Becker

Eine "neue Ära für Audi", wie Vertriebschefin Hildegard Wortmann sagt? Der Audi E-tron ist zwar das meistverkaufte Elektro-SUV in Europa. Absolut sind die Stückzahlen aber gering. Wegen Batterieproblemen konnte Audi 2019 nur 26 317 E- tron ausliefern; in diesem Jahr sollen es knapp doppelt so viele werden. Mehr geben die Fließbänder in Brüssel nicht her. Erst im nächsten Sommer kommt der Q 4 E-tron aus Zwickau. Also ein weiteres Jahr des Wartens. Bis dahin hat Audi dem Tesla Model 3 nichts entgegenzusetzen: keinen effizienten Mittelklasse-Stromer, der als Erstauto für Familien taugt - und knapp 60 000 Euro kostet. So wie der Polestar 2.

Als Volvo vor vier Jahren die Studie 40.2 zeigte, waren die Händler nicht begeistert. Das war kein richtiges SUV - trotz der leicht erhöhten Sitzposition und der selbstbewussten Front. Für eine kompakte Fließheck-Limousine waren 4,6 Meter Länge zu viel, für einen Familien-Volvo aber zu wenig. Die hinteren Türen täuschen elegant darüber hinweg, wie eng es in der zweiten Reihe zugeht. Von wegen: Elektroautos bieten auf gleicher Grundfläche mehr Innenraum. Was beim sportlich positionierten Polestar 2 weniger stört. Es ist nicht der krakeelende Motorsport mit weit aufgerissenen Kiemen, aufgeblasenen Radhäusern und Heckspoiler-Zierrat. Statt solcher Verbrenner-Traditionen pflegt der Wagen eine schnörkellose Eleganz, die man auch von modernem skandinavischem Design erwarten würde. Selbst Volvo ist da nicht immer konsequent.

Viele Volvo-Händler hätten den Tesla-Jäger nun liebend gern in ihren Schauräumen stehen. Auch die deutschen Marken müssen sich fragen lassen, warum sie keinen Stromer im Format ihrer Kernmodelle Audi A 4, BMW 3er oder Mercedes-C-Klasse zu bieten haben. Einen, der im Verbrauchstest der Elektroauto-Vermietung Nextmove nicht hinterherfährt, so wie der Audi E-tron. Während ein Tesla Model X 21,7 Kilowattstunden (kWh) Strom je 100 Autobahnkilometer verbrauchte, gönnte sich der E-tron im vergangenen Jahr etwa drei Kilowattstunden mehr. Auch im gesetzlichen Testzyklus (WLTP) genehmigt sich der 300 PS starke Audi E-tron 50 quattro 26,4 - 22,4 kWh/100 km. Mal schauen, wie sich der kommende BMW iX 3 im direkten Vergleich schlägt. Mit einem WLTP-Stromverbrauch von 19,5 - 18,5 kWh/100 km scheint der 286 PS starke Münchner (aus China) merklich sparsamer zu sein. Das schlägt sich in der Reichweite nieder - beziehungsweise in der dafür nötigen Batteriegröße und den Kosten.

Kein Wunder, dass die meisten Audi-Kunden den 95-kWh-Akku wählen. Mit der kleineren 71-kWh-Batterie kommt das Elektro-SUV aus Ingolstadt lediglich 347 Kilometer weit. Für den gleichen Basispreis von knapp 70 000 Euro gibt es beim BMW iX 3 dagegen 120 WLTP-Kilometer mehr Radius. Nicht einmal der stärkere Audi E-tron 55 quattro kommt so weit, obwohl er mindestens 10 000 Euro zusätzlich kostet. Die mangelnde Energieeffizienz mag für Kunden in diesem Segment nicht ganz so wichtig sein wie der Fahrspaß. Doch Kurven mochte der E-tron anfangs noch weniger als die Autobahn.

Verblüffend banal

Der E-tron-Testwagen, den die SZ vor genau einem Jahr fahren konnte, ging mit der Behändigkeit eines Lieferwagens ums Eck. Starkes Übersteuern erinnerte in jeder Kurve an das Gewicht von 2,5 Tonnen. Doch an der Masse allein liegt es nicht, das gleich schwere Model X von Tesla schiebt nicht so ausgeprägt über den Kurvenrand. Audi hat den Missstand erkannt und mittlerweile behoben: Mit einer neu eingestellten Lenkung lässt sich der Audi E-tron Sportback nun angenehm neutral durch die Kurven zirkeln. Mehr noch: Das jetzt getestete Sportback-S-Modell stemmt sich der Fliehkraft auch mit Hilfe von zwei getrennt ansteuerbaren Elektromotoren an der Hinterachse entgegen. Wie ein Skifahrer, der mehr Kraft auf den Talski legt, kann auch das E-tron-Sportmodell mehr Drehmoment an das kurvenäußere Hinterrad bringen. Und der Elefant beginnt wohlkontrolliert durch den Kreisverkehr und enge Kehren zu tanzen.

Audi, Quattro und ein neues Fahrgefühl? Das hat früher einmal den Slogan "Vorsprung durch Technik" begründet. Bis zum März 1980 gab es den Allradantrieb nur bei Lkws und lahmen Geländewagen. 40 Jahre später schließt sich der Kreis: Der Superstromer mit der Masse eines Transporters (beim Sportback S sind es 2,6 Tonnen) fährt sich dank der aktiven Drehmomentverteilung (Torque Vectoring) wie - nun ja: so ähnlich wie ein sportlich aufgemotzter Audi SQ 5. Das ist im ersten Moment verblüffend banal, im nächsten Moment wunderbar leise und unterm Strich völlig logisch. Schließlich ist der Q 5 das erfolgreichste Modell der Ingolstädter, der E-tron basiert auf einer ähnlichen Basis, und nicht wenige Audi-Kunden wollen genau das: Viel Platz, viel PS und viel Traktion. 504 PS und nahezu 1000 Newtonmeter Drehmoment klingen ziemlich brutal, wirken hinter dem Lenkrad des E-tron Sportback S aber ganz zivilisiert. Ohne das hektische Schalten der Automatik und das Drehzahlklettern des Verbrenners ist es einfach nur die perfekte Welle, auf der man gleichmäßig und mühelos surfen kann.

Bei einem Einstiegspreis von 96 000 Euro stellt sich allerdings die Sinnfrage: Ist der technische Overkill tatsächlich nötig, um das Übergewicht der Stromer zu kaschieren? Die Antwort gibt der Polestar 2, der als Produkt einer jungen Firma erstaunlich ausgereift daherkommt - ohne zur Schweden-Kopie zu werden. Auf schlechten Straßen mag mancher die bequeme Federung der Volvo-Modelle vermissen, auch die Luftfederung des Audi E-tron bleibt da in angenehmer Erinnerung. Denn sie verhindert jenes harte Anfedern, das fast allen Elektrofahrzeugen (außer denen von Tesla) eigen ist. Trocken rumpeln sie über Querfugen und Kanaldeckel. Ihre Fahrwerke stammen aus den konventionellen Baureihen - und sind vom Mehrgewicht der Stromer offensichtlich überfordert. Vor diesem Hintergrund machen Werbeversprechen wie "der Mercedes/Audi unter den Elektrischen" durchaus Sinn. Die Traditionsmarken bringen ihren Komfortanspruch und ihren Charakter mit in die neue Welt.

Keine Volvo-Kopie

Und Polestar? Es ist dieser Satz von Marken-Chef Thomas Ingenlath, der hängen bleibt: "Sprich mit dem Auto und lass es zu dir sprechen." Er meint nicht nur das neue Sprachbediensystem auf Basis von Android Auto. Es geht auch um das Fahrverhalten und im übertragenen Sinne um das kollektive Auto-Gedächtnis: Was sagen die neuen Elektroautos denjenigen, die auf der Rückbank von Verbrennern groß geworden sind? Gibt es ein Fahrgefühl, das einem vertraut vorkommt, das sich in die Festplatte der angenehmen Erinnerungen eingebrannt hat? Wer eine solche Auto-Biografie für Unsinn hält, sollte ein paar Runden in einem chinesischen Auto drehen. Auch wenn es neutral fährt, berührt es den Fahrer womöglich kaum mehr als eine Busfahrt. Personentransport, mehr oder weniger bequem, beliebig und austauschbar.

Es hat also einen Grund, warum in Asien reihenweise Designer und andere Autoexperten aus dem Westen angeheuert werden. Gerade von international ausgerichteten Elektro-Start-ups, die nach einem wiedererkennbaren Markenprofil suchen. Sie verlassen sich nicht nur auf digitale Innovationen, sondern beschreiten auch beim Design und Fahrgefühl eigene Wege. Was passiert also, wenn das ganze Geflimmer, Gezwitscher und Sprachassistieren im Innenraum für einen Moment ausgeschaltet wird? Kriegt dann auch die Markenidentität einen Blackout? Nach einer Landpartie im Polestar 2 kann man zumindest für diesen Newcomer Entwarnung geben. Vom Start weg gelingt es der Entwickler-Truppe aus Göteborg, einen eigenen Charakter zu etablieren: Agil, präzise und mit 408 PS kein bisschen langsamer als der E-tron Sportback S. Erstaunlich gut kaschiert der Polestar 2 sein Gewicht von 2123 Kilogramm. Obwohl er etwa 250 Kilogramm schwerer ist als das Tesla Model 3, fährt er sich fast so spritzig und leichtfüßig in Kurven. Und 470 Kilometer WLTP-Reichweite plus ein großer Kofferraum sind auch eine Ansage. Deutschland: Wir warten.

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SZ vom 01.08.2020/reek
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