Anfang dieser Woche gab es Grund zum Feiern im Berliner Werk des Fahrzeugzulieferers Brose: Dort lief der millionste Elektromotor für Fahrräder vom Band. Damit hat sich das Geschäft mit Antrieben für Pedelecs (so nennen Fachleute die Fahrräder mit elektrischem Zusatzantrieb) mittlerweile zu einer der wichtigsten Säulen des Unternehmens entwickelt. Fragen dazu an Thomas Leicht, den Chef der Pedelec-Sparte.
SZ: Herr Leicht, Brose war stets ein Zulieferer der Automobilindustrie. Da kommt man doch nur auf Umwegen dazu, an ein Geschäft mit Fahrrädern zu denken. Oder?
Thomas Leicht: Im Zuge der Finanzkrise 2008/2009 stellten wir uns im Unternehmen die Frage: Wo gibt es noch ungenutzte Potenziale? Wie können wir unsere elektrischen Antriebe, die Sie zum Beispiel in Fensterhebern, elektrischen Servolenkungen oder Sitzantrieben finden, für andere Kunden nutzbar machen? Damals wurde viel experimentiert...
Unter anderem mit elektrisch öffnenden Haustüren oder Möbelklappen...
Wir haben damals festgestellt, dass unser Metier die Mobilität war und ist. Deshalb haben wir uns schnell für Antriebe für E-Bikes interessiert, eine eigene Sparte mit Start-up-typischen Ansätzen geschaffen, rasch einen ersten Prototypen entwickelt und dann 2014 die ersten Serienantriebe auf den Markt gebracht. Uns ist es damals gelungen, ein - technisch gesehen - echtes Sahnestück zu entwerfen, das auch noch "Made in Berlin" ist.
Ein "Sahnestück"? Ist das Ihr Ernst?
Wenn Sie in unsere Antriebe hineinschauen, werden Sie sehen, dass wir für die letzte Getriebestufe des Antriebs einen Zahnriemen nutzen statt Zahnräder, sodass dort nicht Metall auf Metall reibt. Damit erreichen wir einen äußerst leisen und vibrationsarmen Antrieb mit sehr harmonischen Fahreigenschaften - und haben ein Alleinstellungsmerkmal im Markt.
Der hat sich rasant entwickelt, nicht erst seit Corona.
Das stimmt. Die Absatzzahlen von E-Bikes in Deutschland verdoppeln sich aktuell etwa alle fünf Jahre. Pro Jahr werden gut vier Millionen Fahrräder verkauft, dieser Wert ist seit Jahren nahezu stabil. Aber der Anteil der Pedelecs wächst und wächst: 2018 waren es eine Million, im Jahr 2019 schon 1,4 Millionen, und im vergangenen Jahr waren es über 1,8 Millionen.
Ein Pedelec-Marktanteil von 50 Prozent ist also in Sicht?
Definitiv. Ich denke, in etwa zwei Jahren wird es so weit sein.
Trotz der aktuellen Lieferprobleme in der Branche? Viele Händler fürchten, dass sie nicht so viele Räder bekommen wie die Kunden nachfragen werden.
Die Warenverfügbarkeit ist ein Problem, das stimmt, trifft uns aber in geringem Maße. Wir beziehen 90 Prozent unserer Komponenten aus Europa, 80 Prozent sogar von Zulieferern aus Deutschland. Probleme bereiten uns derzeit die Hersteller von Mikrochips, beziehungsweise deren Vorlieferanten, die ihre Produktion nicht entsprechend der Marktentwicklung steigern können. Davon sind zum Beispiel auch die Autoindustrie oder der Konsumgüterbereich betroffen.
Sonst sehen Sie keine Risiken, beispielsweise konjunkturelle? Etwa weil die Corona-Krise die Wirtschaft weltweit abschmieren lassen könnte?
Ich halte das Risiko in unserem Marktsegment für eher gering. Außerdem ist die Sparquote in Deutschland zuletzt auf 16 Prozent gewachsen, die Leute können derzeit nicht in den Urlaub fahren, wollen aber dennoch ihre Freizeit genießen. Davon profitieren viele Unternehmen, von Whirlpool-Herstellern über Wohnmobilbauer bis hin zur Fahrradbranche. Und viele andere Länder sind lange noch nicht so weit wie wir in Deutschland, was den Marktanteil von E-Bikes betrifft. Da schlummert noch enormes Potenzial.
An welche Länder denken Sie konkret?
An fast alle in unserer direkten Nachbarschaft. Frankreich zum Beispiel oder die Benelux-Staaten. Dort sind die Menschen vielleicht nicht bereit, so viel Geld für E-Bikes auszugeben wie in Deutschland. Das ist ähnlich wie beim Auto. Dennoch gibt es immense Wachstumschancen.
Unterwegs auf den Radwegen merken die Leute aber schnell, dass diese in vielen Städten viel zu eng und ziemlich holprig sind. Und die Unfallzahlen zeigten zuletzt eine Zunahme bei Radfahrerinnen und Radfahrern, insbesondere auch bei Pedelec-Nutzern.
Bei der Radinfrastruktur gibt es definitiv Verbesserungsbedarf. Wir brauchen komfortable und vor allem sichere Radwege, aber auch mehr sichere Abstellmöglichkeiten. Wo es möglich ist, sollte der Radverkehr getrennt vom Kfz-Verkehr geführt werden. Und es geschieht ja auch etwas: Der Bund gibt Geld, und viele Kommunen sind dabei, ihre Innenstädte umzuplanen und dem Rad mehr Platz einzuräumen.
Es gibt schon erste Rufe nach einer Helmpflicht für Pedelec-Fahrer.
Ich denke, dass wir mit Freiwilligkeit mehr erreichen. Die Frage ist ja, wie sorgen wir für mehr Sicherheit? Selbst mit einem "normalen" Fahrrad sind Geschwindigkeiten von mehr als 25 km/h möglich. Deshalb halte ich wenig von einer einseitigen Helm- oder Versicherungspflicht nur für Pedelec-Fahrer. Ich bin Mitglied einer Generation, die noch das Mofa kannte. Als Mitte der Achtzigerjahre die Helmpflicht für Mofas eingeführt wurde, war das Mofa tot. Ähnlich würde es dem Pedelec gehen.
Und welche Folgen hätte eine Versicherungspflicht?
Damit wäre weder das Fahren in der freien Natur, auf Wald- und auf Feldwegen gestattet noch die Benutzung von Radwegen. Ich fürchte, dass das die Attraktivität von Pedelecs für viele Nutzer schmälern würde - mit entsprechenden wirtschaftlichen und ökologischen Folgen. Nach Meinung vieler Experten würde der Markt dann massiv einbrechen. Das ist auch unter verkehrspolitischen Gesichtspunkten nicht zielführend. Denn eines ist doch klar: Wenn die Mobilitätswende gelingen soll, brauchen wir das Pedelec und andere Lösungen für Mikromobilität.