Der 17. Mai 2017 war ein Rekordtag in La Paz: 194 971 Menschen nutzten eine der vier Seilbahnlinien in der bolivianischen Stadt, so viele wie noch nie zuvor. Damit war dieser Mittwoch ein guter Tag für César Dockweiler, den Geschäftsführer des staatlichen Unternehmens Mi Teleférico, das die Seilbahnen betreibt. Bestätigten die Zahlen doch, dass die Stadt mit ihrer Entscheidung, einen Teil des öffentlichen Transports in die Luft zu verlegen, richtig lag. "Für die Verwaltung war die Seilbahn als Verkehrsmittel die beste Wahl", erklärte der Bolivianer kürzlich beim Weltseilbahnkongress der Internationalen Organisation für das Seilbahnwesen (OITAF) in Bozen. Sie ist effizient, umweltfreundlich und verbessert die Lebensqualität in den Metropolen Süd- und Mittelamerikas. In Europa aber ist eine urbane Seilbahn eine exotische Sache.
Dabei wären Boliviens Regierungssitz La Paz und die Nachbarstadt El Alto aus europäischer Sicht - nach der Seilbahnen vor allem touristischen Zwecken in den Bergen dienen - durchaus ein passender Standort. Die eng verbundenen Städte mit ihren mehr als zwei Millionen Einwohnern liegen in den Anden auf einer Höhe von 3000 bis 4000 Metern über dem Meeresspiegel. Das österreichische Unternehmen Doppelmayr baut hier aber keinen gigantischen Skizirkus, sondern das größte urbane Seilbahnnetz der Welt. Vier Linien gibt es bereits, elf sollen es am Ende werden. Auf einer Gesamtlänge von 21,7 Kilometern sollen sie einmal bis zu 100 000 Passagiere pro Stunde befördern.
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Die Vorteile einer Seilbahn liegen laut Geschäftsführer Dockweiler auf der Hand, und die meisten davon gelten für alle Städte dieser Erde, die zunehmend Richtung Verkehrskollaps driften: keine verstopften Straßen, kaum Lärm, kaum Luftverschmutzung. Bis zu 16 Tage pro Jahr gewinnt ein Seilbahnnutzer in La Paz, nur deshalb, weil er nicht mehr im Stau steht. Sicherer als ein Auto ist eine Seilbahn auch: Das Schweizer Bundesamt für Statistik hat 2015 die Zahlen für die Schweiz zusammengefasst: 280 Tote bei Verkehrsunfällen, einer bei einem Seilbahnunfall.
Zudem spart man Fläche und Geld. Eine zweispurige Straße von zehn Kilometern Länge verschlingt 120 000 Quadratmeter Fläche. Drei Seilbahnlinien der gleichen Länge benötigen lediglich 53 000 Quadratmeter. Ganz zu schweigen von den Kosten. Die Firma Doppelmayr schätzt, dass eine Seilbahn nur ein bis zwei Drittel eines herkömmlichen Transportmittels kostet.
"Die Seilbahn hebt die sozio-ökonomische Trennung auf"
In Lateinamerika kommt die soziale Komponente dazu. "Die Seilbahn schafft Chancengleichheit", erklärte Dockweiler. Die Leute gelangen aus den Armenvierteln zuverlässig zur Arbeitsstelle, meist in den besseren Vierteln, die Kriminalität bleibt unten. In La Paz gibt es zudem medizinische Versorgung in den Stationen.
In Medellín, der zweitgrößten Stadt Kolumbiens, die vor 25 Jahren noch zu den gefährlichsten Orten der Welt zählte, soll die Seilbahn sogar dazu beigetragen haben, die Mordrate signifikant zu senken. Im Jahr 2003 zählte man 188 Morde pro 100 000 Einwohner, fünf Jahre später waren es nur noch 30 - so der Essay, der 2012 im American Journal of Epidemiology erschienen ist: "Reducing Violence by Transforming Neighborhoods: A Natural Experiment in Medellín, Colombia". Dank der Bahn wurden Grenzen überwunden, erklärte Jorge Ramos, Chef der Seilbahnen im Verbund Metro de Medellín, bei der Konferenz in Bozen. "Die Seilbahn hebt die sozio-ökonomische Trennung auf."
Zudem ist die Medellín-Seilbahn auch als "Clean Development Mechanism"-Projekt, kurz: CDM, im Rahmen des UN-Emissionshandels gelistet. Somit gibt es Geld für die Emissionszertifikate - die Industrieländer oder Unternehmen brauchen, um ihren erhöhten Ausstoß an Treibhausgasen zu kompensieren. Gut 20 000 Tonnen Kohlendioxid wurden 2016 dank der Seilbahn in Medellín eingespart.
Mexiko hat nachgezogen. Seit Oktober 2016 gibt es in der Ecatepec de Morelos vor den Toren von Mexiko-Stadt eine Seilbahn von knapp fünf Kilometern Länge - und wieder geht es darum - wie in La Paz oder Medellín -, die Viertel aufzuwerten, bessere Arbeitsbedingungen zu schaffen, der Kriminalität den Boden zu entziehen.
"Wir brauchen 700 Seilbahnen in Deutschland"
In Europa hingegen betrachtet man diese Transportoption mit Skepsis. Welch ein Fehler angesichts verstopfter Straßen in den Städten, meint Verkehrsexperte Heiner Monheim. "Wir brauchen 700 Seilbahnen in Deutschland, wenn wir wirklich eine Verkehrsentlastung erreichen wollen", konstatierte er beim Kongress in Bozen. Statt dessen setze man nach wie vor auf Autos, und Gewinner sei "der Stau, das erfolgreichste Exportprojekt der Autoindustrie".
Seilbahnen seien vor allem dann eine interessante Lösung, wenn es darum gehe, Viertel an der Peripherie anzuschließen oder Flüsse und Täler zu überbrücken. Unverzichtbar aber: die Anbindung ans öffentliche Verkehrsnetz.
In Deutschland steht man den Projekten aber nur gelegentlich positiv gegenüber. Immerhin habe Nordrhein-Westfalen sein ÖPNV-Gesetz geändert, sagt Monheim. Werde eine Seilbahn ins Ticketsystem integriert, gebe es Förderung. Die Stadt Wuppertal hat sich im Juli entschlossen, ein Seilbahnprojekt weiter zu verfolgen. Die Bahn soll Hauptbahnhof, Universität, Schulzentrum Süd und Südhöhen verbinden. Erfolgsprojekte sind auch die Linien in Koblenz und in Berlin - beide für Gartenschauen gebaut und gut angenommen.
"Eine Seilbahn ist am billigsten und am schnellsten"
In Hamburg jedoch ist die Seilbahn durchgefallen. 2014 wurde das Projekt, das St. Pauli und die Musicaltheater am Hafen verbinden sollte, bei einem Bürgerentscheid abgelehnt. Auch in München wurden drei Seilbahnprojekte diskutiert: eine Tangentialverbindung am Tierpark im Süden der Stadt, eine Verbindung im Norden sowie eine zur Verbesserung der Anbindung des Messeareals im Osten an den Airport.
Alle kamen bislang über erste Vorüberlegungen kaum hinaus. Die Skepsis hat laut Verkehrsplaner Monheim vor allem eine Ursache: Europäer sehen Seilbahnen als touristische Institution, stets kombiniert mit einem gigantischen Parkplatz. Und Stadtbewohner fürchten, von oben beobachtet zu werden. Die Stadt Toulouse im Süden Frankreichs baut jetzt trotzdem, als eine der ersten in Europa: Das Viertel Ranggueil, früher Areal einer Chemie- und Waffenfabrik, heute Universitäts- und Klinikstandort, wird via Seilbahn an den Nahverkehr angebunden. Ende 2019 soll die von Poma, einer Tochter des Südtiroler Unternehmens Leitner, gebaute Bahn in Betrieb gehen. Cyril Ladier, Projektleiter in Toulouse, hat die Beweggründe schnell erklärt: "Eine Seilbahn ist am billigsten und am schnellsten."