Süddeutsche Zeitung

Notfall-Übung am Skilift:Gefangen in der Kälte

Bevor ein Skilift in den Alpen in Betrieb gehen darf, muss die Rettung im Notfall geübt werden. Unser Autor hat sich abseilen lassen.

Von Thomas Becker

Die Durchsage krächzt blechern aus dem Lautsprecher des Sessellifts. "Achtung, Achtung!" Und sie verheißt nichts Gutes. Auch wenn nur einzelne Fetzen wie "technische Störung", "keine Weiterfahrt möglich" und "Sie werden gerettet" zu vernehmen sind, wird schnell klar, dass gerade der größte anzunehmende Albtraum eines jeden Skifahrers droht: im Lift stecken bleiben. Genau das passiert dann auch: Der neue Achter-Sessel "Hasenköpfl" am Skiberg Helm im Dolomiten-Gebiet Drei Zinnen bei Sexten in Südtirol bewegt sich nicht mehr. Keinen Zentimeter mehr, weder nach vorn noch nach hinten. Na, servus.

Da nutzen auch die schick gepolsterten und beheizten Sitze wenig. Das Ding steht. Mit vier Mitfahrern hängt man nun auf 2000 Metern Höhe hilf- und ratlos in der Luft, zu hoch über dem Boden, um an einen Sprung nach unten auch nur zu denken. Nur gut, dass es nicht allzu kalt ist, knapp über null Grad, wenig Wind, leichter Schneefall. Für mittags ist allerdings Föhnsturm angesagt, und da will man dann nicht im Sessellift sitzen. Wie lang es wohl dauert, bis die Retter kommen? Und: Wie retten die einen überhaupt aus dieser schaukelnden Sitzgelegenheit?

Fragen, die man sich als Bergbahnnutzer zum Glück selten stellen muss. "In den vergangenen 15 Jahren ist mir in Bayern kein einziger Fall untergekommen", sagt Christoph Bos. Der Sachbearbeiter ist bei der Regierung von Oberbayern für die 120 Seilbahnen und 609 Schlepplifte im Freistaat zuständig. "Die technische Entwicklung ist weitergegangen", sagt Bos. An jeder Stütze und an jeder Rollenbatterie gebe es heute Seilfänger, so dass eine Gondel oder ein Sessel "fast nicht mehr auf den Boden stürzen kann".

Genau das aber ist am Helm bei Sexten schon mal passiert, 1996 war das. Einer, der damals dabei war, erinnert sich: "Ein schöner Sonntag war das, alle Lifte voll besetzt - und dann hat sich an einem Zweier-Sessellift ein Bolzen gelöst, das Seil ist entgleist, und die Sessel sind aus sieben, acht Metern runtergeknallt. Ein paar Leute wurden regelrecht rauskatapultiert." Passiert ist bis auf einige leichte Verletzungen nichts, doch der Schock saß tief.

Um für solche Fälle gewappnet zu sein, muss bei jeder neuen Liftanlage - und sei sie noch so Premium wie die sündteure Hasenköpfl-Bahn - vor der offiziellen Inbetriebnahme eine Evakuierungsübung stattfinden. Das relativiert das Albtraum-Gefühl der "Steckengebliebenen", ist aber dennoch eine prima Übung in Demut angesichts der Fähigkeiten der für die Rettung zuständigen Bergwachtler. Wie es sich auswirkt, wenn diese karabinerbewehrten Burschen ihr Handwerk nämlich nicht aus dem Effeff beherrschen, auch das wird bei dieser Übung deutlich werden.

"Die Leute stehen Schlange dafür"

In Bayern erfreuen sich diese Übungen großer Beliebtheit, sagt Christoph Bos: "Die Liftbetreiber schreiben das öffentlich aus, und die Leute stehen Schlange dafür. Für die ist Abseilen das Größte." Wie die Meinungen doch auseinandergehen. Die Vorstellung, nur an einem fingerdicken Seil über dem Abgrund zu baumeln, ist nicht Jedermanns Sache. Bis 100 Meter über Grund darf abgeseilt werden, "alles andere ist gesundheitlich nicht zumutbar", sagt Bos. Wer also beispielsweise in der neuen Zugspitz-Gondel stecken bleibt, muss nicht ans Seil, sondern darf in luftiger Höhe in einen Bergungskorb umsteigen - maximal 120 Meter über Grund.

Wie die Rettung aus einer Gondel oder einem Sessellift zu erfolgen hat, ist europaweit geregelt: in den "Sicherheitsanforderungen an Seilbahnen für den Personenverkehr, Räumung und Bergung, DIN En1909:2017". Denen zufolge muss spätestens nach dreieinhalb Stunden auch der letzte Fahrgast wieder auf festem Boden sein. Neben der Sicherheit geht es vor allem um den Faktor Zeit. Selbst in einem funktionierenden Lift können einem Wind, Kälte und Niederschlag ordentlich zu schaffen machen - nicht auszudenken, man müsste im Schneesturm auf Rettung warten. Im sogenannten Securplan der Drei Zinnen heißt es in der Rubrik "Schadensrelevanz-Analyse": "Bereits ein geringes Absinken der Körpertemperatur kann zu Problemen, zum Beispiel verminderter Körperbeherrschung, führen und stellt somit ein Sicherheitsrisiko dar. Bei starker Unterkühlung können die Auswirkungen bis zur Bewegungsunfähigkeit, Bewusstlosigkeit, Versagen von Atmung und Kreislauf und somit zum Tod führen. Selbst Temperaturen über dem Gefrierpunkt können zu einer lebensbedrohenden Unterkühlung führen."

Muss bei Temperaturen von minus 20 Grad Celsius evakuiert werden, sollten die Fahrgäste in einer Sesselbahn ohne Wetterschutzhaube innerhalb von 30 Minuten gerettet werden, um Erfrierungserscheinungen zu vermeiden. Bei höheren Windgeschwindigkeiten verringert sich die Einsatzzeit. Zahlenmäßig kann das Ausmaß der Gefährdung durch Kälte durch die sogenannte Wind-Chill-Temperatur angegeben werden. Dadurch erhält man Grenzwerte für die Aufenthaltsdauer unter bestimmten Bedingungen, jenseits derer Erfrierungen zu befürchten sind. Klar ist in jedem Fall: Es muss bitteschön schnell gehen.

Am Hasenköpfl ist das die Aufgabe von Betriebsleiter Dietmar Weitlaner. Für die vom Bozener Amt für Seilbahnen (der Entsprechung zum TÜV in Deutschland) vorgeschriebene Evakuierungsübung an der neuen Anlage hat er seine Rettungstrupps - fünf dunkelblau gewandete Feuerwehren, drei rot-blaue Bergrettungsmannschaften sowie ein rot-weißes Team vom Weißen Kreuz - schon am Ort. Im Ernstfall muss er sie erst alarmieren und auf den Berg bringen: wenn es die Wind- und Wetterverhältnisse zulassen per Hubschrauber oder mit der Gondel. Das dauert. Derweil richtet Weitlaner in der Talstation des Hasenköpfl die Einsatzzentrale ein: ein roter Alu-Koffer, der ausgeklappt zu einer Übersichtstafel der Einsätze an der Anlage wird. 1600 Meter lang ist der Lift, 72 Sessel können insgesamt 3600 Gäste pro Stunde transportieren. Rechnet man alles zusammen (36 Sessel in Bergfahrt mal acht Fahrgäste), kommt man auf maximal 288 zu rettende Personen.

Für die Übung stehen 28 Opfer zur Verfügung - und 36 Retter. Da Letztere schon oben am Berg sind, geht alles recht flott: Einsatzleiter Weitlaner verteilt seine neun Rettungsteams auf entsprechend viele Bergungsabschnitte an den insgesamt 13 Stützen. Jedes Team besteht aus zwei Bergwachtlern, die in der Luft arbeiten, und zwei Feuerwehrleuten, die die Geretteten am Boden in Empfang nehmen und betreuen. Nach dem "Achtung, Achtung!" aus den Lautsprechern heulen die Pistenraupen los und bringen die Teams zu den Liftstützen, wo sich einer der Bergwachtler über eine Rolle per Karabiner ins Drahtseil einklinkt und talwärts zu unserem Sessel hangelt.

"Hoi", grüßt der drahtige Kerl mit dem eisgrauen Siebentagebart. Manni heißt er, war mal erfolgreicher Bergläufer und rettet schon seit 36 Jahren. Jeder Handgriff sitzt: Zur Sicherung spannt er zunächst ein Seil parallel zum automatisch verriegelten Bügel, den er dann per Hebel an der Rückwand öffnet. Nun schlüpft der erste Fahrgast in eine Art Dreieckstuch, mit dessen Hilfe Manni ihn abseilt. Er arbeitet hochkonzentriert, hantiert mit zig verschiedenen Seilen, Schlaufen und Karabinern, damit ja nichts schief geht. Eine Viertelstunde dauert es, bis alle fünf am Boden sind. Und schon hangelt sich Manni weiter zum nächsten Sessel. Eine Sisyphosarbeit.

Warum der Aufwand?

Man fragt sich natürlich: Warum der Aufwand? Braucht es diesen neuen Lift unbedingt? Der schicke Hasenköpfl ersetzt einen in die Jahre gekommenen Dreier-Sessel. Kosten: etwa 15 Millionen Euro. Für die Liftgesellschaft ein alternativloses Investment. Das Skigebiet Drei Zinnen ist Teil von Dolomiti Superski, mit 1200 Pistenkilometern und 450 Liftanlagen der weltgrößte Skipassverbund. In den vergangenen Jahren wurden in neue Anlagen und verbesserte Beschneiung 100 Millionen Euro investiert - pro Jahr. Zur Wintersaison werden acht neue Anlagen in Betrieb genommen. Zum Vergleich: In ganz Bayern werden im kommenden Jahr vier alte Anlagen gegen neue ausgetauscht, sagt Christoph Bos: "Da in Deutschland kein Seilbahngesetz erlassen wurde, muss jedes Bundesland schauen, wie es die EU-Richtlinien umsetzt." Anders als in Österreich, wo Seilbahnkonzessionen nach 15, 20 Jahren ausliefen, liege es in Deutschland im Ermessen des Liftbetreibers, ob und wann er seine Anlage modernisiert, erklärt Bos. So gondelt die Kampenwandbahn schon seit 1957 auf und nieder, auch die Alpspitzbahn in Garmisch-Partenkirchen ist bereits seit 1973 in Betrieb.

Am Helm sind derweil nach etwa eineinhalb Stunden im Lift alle Rettungs-Selfies im Kasten, Schnupftabak geht rum - doch ein Rettungsteam fehlt noch. Nach zwei Stunden und sieben Minuten klappt Einsatzleiter Dietmar Weitlaner den roten Rettungskoffer zu und erklärt die Übung für beendet. Er bedankt sich, lädt alle zu Bier und Bims (südtirolerisch für belegte Semmel) ein und bittet die Teamleiter zur Nachbesprechung - man will schließlich besser werden. Warum das letzte Team so lange gebraucht hat, will er wissen. Nun, da sei ein Bergwacht-Novize mit am Werk gewesen, heißt es, und dann dauere eben alles ein wenig länger. Gut, dass der Mann das jetzt auch mal geübt hat, für den Fall, dass wieder einmal "Achtung, Achtung!" aus dem Lautsprecher krächzt.

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Quelle:
SZ vom 07.12.2019
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