Nissan GT-R im Fahrbericht:Nie war Godzilla besser

Der Motor ein Berserker, das Kurvenverhalten perfekt, Komfort bietet er auch noch: Der neue Nissan GT-R ist der perfekte Sportwagen - wenn da nicht das schlechte Gewissen wäre.

Test von Thomas Harloff, Spa-Francorchamps

Jeder Student, Lehrer oder Professor der Physik sollte die Gelegenheit bekommen, einen Nissan GT-R zu fahren. Schon nach wenigen Kilometern, ein paar schnellen Kurven und diversen Beschleunigungen in diesem Japan-Coupé, das sie nicht umsonst Godzilla nennen, würde jeder noch so renommierte Physiker die Gesetze dieser Naturwissenschaft in Frage stellen. Tausende Tafelwerke und Lehrbücher müssen eigentlich neu geschrieben werden, denn dieses Auto ist physikalisch nicht erklärbar.

Seit achteinhalb Jahren rätseln Autoexperten, wie es einem 1,8-Tonnen-Riesen gelingen kann, in unter drei Sekunden von Null auf Hundert zu beschleunigen oder seine Karosserie derart vehement in Kurven zu werfen. Rätselhaft ist auch, wie es die Mannschaft um den legendären GT-R-Konstrukteur Hiroshi Tamura schaffte, dieses Auto im Zweijahres-Rhythmus zu verfeinern. Und wie es nun - mit der umfangreichsten Modellpflege der GT-R-Geschichte - gelang, das Auto zu perfektionieren, ohne es seiner Faszination zu berauben.

So viele Designretuschen wie nie zuvor

Seit es den Nissan GT-R gibt, hat sich bei einer Modellpflege optisch nie so viel geändert wie diesmal. Neu ist vor allem die Front mit dem achteckigen Kühlergrill, die nicht nur besser aussieht als zuvor, sondern auch Tamuras Credo berücksichtigt: Geändert wird nur, was das Auto auch technisch verbessert. Deshalb profitiert die Motorkühlung vom neuen Frontdesign ebenso wie der Anpressdruck von der neu geformten Spoilerlippe. Die Änderungen an der Seitenlinie und am Heck sollen den Luftstrom um das Auto beruhigen und die Straßenlage verbessern.

Was die Detailarbeit gebracht hat, zeigt sich auf der Autobahn. Je schneller der GT-R wird, umso souveräner liegt er auf der Straße: Kein Versetzen auf Bodenwellen, kein Flattern in der Lenkung, kaum Windgeräusche, die riesigen Stahlbremsen stets in Habachtstellung. Trotzdem lässt er den Fahrer die Geschwindigkeit spüren, entkoppelt ihn trotz der etwas zu hohen Sitzposition nicht von der Straße und baut so Vertrauen zwischen Mensch, Maschine und Umgebung auf. Der Hauptgrund für den großen Fortschritt im Vergleich zum Vorgänger ist die viel komfortablere Abstimmung im entsprechenden Fahrwerksmodus. Federn und Dämpfer sprechen so sensibel auf Unebenheiten an, dass es bei langsamem Tempo der Bequemlichkeit und bei hohen Geschwindigkeiten der Sicherheit dient.

Rennstreckenspaß auf der Formel-1-Piste

Seine zahme Seite lässt der Nissan GT-R hinter sich, sobald er in die Normal- oder R-Einstellung wechselt. Letztere bewies ihre Qualitäten eindrucksvoll auf der Formel-1-Rennstrecke von Spa-Francorchamps. Wie präzise dieses schwere Auto einlenkt, wie stoisch es die Linie hält, wie viel Traktion es aufbaut: Als hätte jemand entlang der Ideallinie eine Rille in den traditionsreichen Rennsport-Asphalt gefräst und den GT-R darin wie in einer Carrera-Bahn eingeklinkt, zieht der Nissan heiser röhrend seine Bahnen. Von Runde zu Runde geht es schneller, weil weder die Reifen noch die Bremsen nachlassen. Und weil er über Lenkrad, Pedale, Pneus und Geräusche detailliert über die Beschaffenheit des sieben Kilometer langen Asphaltbandes berichtet. Überhaupt, die Geräusche: Noch immer rumpelt und mahlt es im Antriebsstrang, wie es beim GT-R Tradition ist - wenn auch deutlich dezenter als früher. Gut, dass Nissan diesen Teil seines Charakters bewahrt hat.

Es ist leicht für den Menschen auf dem Fahrersitz, Godzilla, dieses fabelhafte Wesen, zu bändigen. Obwohl der GT-R auf der belasteten kurvenäußeren Seite stark eintaucht, fühlt er sich vor und in den ersten Metern der Kurven grazil an. Absolut ungehemmt präsentiert er sich erst ab Kurvenmitte: Nämlich dann, wenn der rechte Fuß bei noch eingeschlagener Lenkung das Gaspedal nach unten presst. 99 von 100 Autos würden bei dieser Gelegenheit per Elektronik Leistung wegregeln oder bemitleidenswert von der Strecke kreiseln. Der Nissan scheint sich mit seinem Allradsystem, das die Motorkraft variabel zwischen den Rädern verteilen kann, mit dem Untergrund zu verzahnen und katapultiert seine Karosse unbarmherzig Richtung nächste Kurve.

Der Motor: Aus Sturm wird Orkan

Den Rest besorgt der völlig irre V6-Biturbo mit 3,8 Litern Hubraum. Dessen Daten, 570 PS und maximal 637 Newtonmeter, geben allenfalls einen dezenten Hinweis, wozu dieser Motor in der Lage ist. Wer das Gaspedal nur schräg anschaut, erntet pure Beschleunigung, immer und überall, bei Trockenheit sowie im Nassen. Dabei teilt der Drehzahlmesser das Erlebnis in zwei Kategorien: Alles unter etwa 3000 Umdrehungen ist Sturm, alles darüber ist Orkan - zumindest, bis Rennwagen-gleich orange und rote Lämpchen zum Einlegen des nächsthöheren Ganges mahnen. Diesen Job übernimmt entweder die Automatik oder der Fahrer per Schaltwippen, wobei das Hoch- deutlich länger als das Herunterschalten dauert. Insgesamt ist dieses Sechsgang-Doppelkupplungsgetriebe aber ein feines Stück Technik, auch weil es sich meist zurücknimmt und den bulligen Motor machen lässt.

Nach wenigen Runden ist der Rennstreckenspaß vorbei, an der berühmten Spitzkehre La Source biegen der GT-R und seine Besatzung nach links auf den Parkplatz ab. Jetzt ist Zeit, durchzuatmen, runterzukommen und sich den neuen Innenraum anzuschauen. Er ist hübscher und hochwertiger geworden, vor allem das schlankere Lenkrad und die umgestaltete Mittelkonsole sehen besser aus als zuvor. Das neue Leder und das Carbon auf der Mittelkonsole fühlen sich gut an, im Gegensatz zum immer noch überpräsenten Hartplastik. Die Bediensicherheit profitiert vom neuen Dreh-Rückstellknopf hinter dem Automatikhebel und vom auf acht Zoll Bildschirmdiagonale gewachsenen Touchscreen, bei dem allerdings manche Menüs durcheinandergeraten sind. Die Grafik erinnert an ein frühes Gameboy-Spiel und will so gar nicht zu diesem Hightech-Coupé passen.

Man schämt sich für den Verbrauch

Und es gibt weitere Schwächen. Die Raumökonomie des 4,70-Meter-Dampfers ist verheerend. Auf den Rücksitzen findet niemand Platz, der Beine und einen Kopf hat. Der Kofferraum fasst lediglich 315 Liter Gepäck, das zudem über eine elend hohe Ladekante gewuchtet werden muss. Und der Verbrauch des doppelt aufgeladenen V6-Berserkers lässt einen beim nächsten Tagesschau-Bericht über den Klimawandel verschämt auf dem Sofa zusammensacken. 11,8 Liter sollen es Nissan zufolge auf 100 Kilometern sein. Doch schon wer 15 Liter schafft, hat gute Chancen auf den imaginären Umwelt-Nobelpreis - und ist in diesem Auto völlig fehl am Platze.

Um die Grenzen der Physik zu verschieben, braucht es mindestens 99 900 Euro, viel hochoktanigen Sprit und massenhaft in die Atmosphäre geschleuderte Abgase. Es ist eine Schande, dass die größten Freuden das schlechteste Gewissen verursachen.

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