Neigetechnik in Zügen:Das Wanken hat kein Ende

Bahningenieure wollen die modifizierte Kurventechnik auch auf Doppelstockzüge übertragen. Der Hersteller Bombardier und die Schweizer Bundesbahnen haben einen ersten Versuch gewagt.

Klaus C. Koch

Wer bislang in Zügen mit Neigetechnik unterwegs war, den befiel bisweilen Übelkeit. Angeblich vertragen bis zu 30 Prozent der Reisenden die Ausgleichsbewegungen nicht, mit denen sich Schienenfahrzeuge wie der berüchtigte Pendolino, aber auch der Intercity Express ICE-T in die Kurve legen. Würde dieselbe Technik unverändert auf Doppelstockwagen übertragen, müssten die Zugbegleiter wohl doch irgendwann jene Tüten verteilen, in die Flugreisende in ähnlichen Fällen ihren Mageninhalt verteilen.

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Überbau: Doppelstockwagen von Bombardier

Die Schweizerischen Bundesbahnen SBB und der Schienenfahrzeughersteller Bombardier sind davon überzeugt, das Problem mit einer sogenannten Wankkompensation, die die Schräglage ausgleicht, in den Griff zu bekommen - sogar für Doppelstöcker. Die Zulassung wird gleichermaßen für Deutschland, Österreich und die Schweiz angestrebt.

Die ansonsten durch ein gut funktionierendes Bahnsystem verwöhnte Schweiz stößt angesichts rapide zunehmender Fahrgastzahlen demnächst wieder mal an die Grenze dessen, was das Schienennetz gerade noch bewältigen kann. Dabei lassen sich nur wenige Strecken in dem von Bergen, Kurven und Serpentinen geprägten Alpenland so begradigen wie die bislang einzige Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Rothrist und Mattstetten, das Mittelstück der Verbindung zwischen Zürich und Bern.

Die Schweizer wollen daher verstärkt auf Doppelstockzüge im Intercity-Format setzen, die 40 Prozent mehr Sitzplätze bieten. Aber nicht nur das. Denn angesichts von Geschwindigkeiten um 200 km/h stellt das Kurvenverhalten ein ernstes Problem dar.

Der Kampf um jede Minute in einem bereits landesweit in der Art einer S-Bahn engmaschig vertakteten Fahrplan führt dazu, dass nun doch wieder vermehrt jene Technik zum Zug kommen soll, die wegen beträchtlicher Pannen und Ausfälle vielerorts mit Skepsis beäugt wird.

Der Zug wird wieder aufgerichtet

Statt wie bisher Neigungen von bis zu acht Grad zuzulassen, die angesichts höherer Waggons womöglich sogar zur Berührung mit dem Gegenverkehr führen könnten, richtet die neue Wankkompensation den Zug wieder auf, belässt aber das Fahrwerk selbst in der Schiene und hält somit Spur.

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Basis: Drehgestell mit Hydraulik und Aktuatoren

Möglich ist das durch elektrohydraulische Systeme, die computergesteuert innerhalb von Sekundenbruchteilen auf Fliehkräfte und Unebenheiten im Gleis reagieren. Im Drehgestell arbeiten zwei Stellvorrichtungen, sogenannte Aktuatoren, wie sie auch in Flugsimulatoren verwendet werden. Der eine stellt den Wagen auf die Kurve ein, der andere regelt den Fahrkomfort, erklärt Projektingenieur Richard Schneider: "Aber im Prinzip tun beide dasselbe."

Fällt eines der beiden Systeme aus, kann das andere immer noch die Kompensation übernehmen. Der feine Unterschied liegt in der Ansteuerung der Hydraulik. Denn die Regelung für den Fahrkomfort gleicht Unfeinheiten schneller - mit höherer Frequenz, sagen die Ingenieure - aus, als der Wagen sich in die Kurve legt.

Etwas misstrauisch macht den Laien, dass im Zweifel beide gegeneinander arbeiten: Der Korrektur-Impuls des einen fängt den Neige-Impuls des anderen wieder auf. "Wir haben trotzdem dafür gesorgt, dass hier keine Energievernichtung betrieben wird", versichert Schneider. Auch eine Resonanzkatastrophe, dass also beide Systeme sich gegenseitig aufschaukeln, soll ausgeschlossen sein.

Auf mehr als zehntausend Kilometern an bisherigen Testfahrten bereits mit hinreichend guten Noten belegt, wagten sich die SBB und Bombardier vergangene Woche mit einer Demonstrationsfahrt zwischen Bern und Lausanne an die Öffentlichkeit.

Noch rüttelt und schwankt es weiter

Vollgepackt mit Messinstrumenten, die zum Teil von der Deutschen Bahn ausgeliehen wurden, rollt der Intercity vorbei an blühenden Landschaften, mit Zwischenhalt in Fribourg und über den Röschtigraben hinweg in Richtung Genf. Pittoresk ist das Panorama, der Blick auf den See bei Vevey.

Leider rüttelt und wankt und schwankt auch der Versuchszug noch immer beträchtlich. Was den Ingenieuren zufolge am Gleisbett sowie daran liegt, dass der Testzug bereits um bis zu 20 km/h schneller fährt als später üblich, um die Fahrt realistisch zu machen. Auch die Trasse selbst verfügt noch über Schwachstellen, die aber demnächst beseitigt werden sollen.

Die Wankkompensation könnte dazu beitragen, dass nicht die komplette Streckenführung neu überdacht werden muss, um einen Zeitvorsprung von sechs bis sieben Minuten reinzuholen. Genau den nämlich braucht die SBB auf dieser Strecke, um die Westschweiz in den Stundentakt einpassen zu können.

Die Rechnung lautet darauf, dass sonst für jede Minute an Fahrzeitverkürzung rund 200 Millionen Franken, umgerechnet 160 Millionen Euro, ausgegeben werden müssten, um Kurven begradigen oder sie durch Tunnels und Brücken abkürzen zu können. "Ein Teil des dafür vorgesehenen Geldes", sagt Stephane Wettstein, Chef von Bombardier in der Schweiz, "kann auch in intelligente Fahrzeugtechnik gesteckt werden."

Natürlich ist auch diese neue Fahrzeugtechnik nicht umsonst zu haben: Auf rund 100 Millionen Franken, umgerechnet 80 Millionen Euro, käme es, wenn alle der 59 Züge damit bestückt würden, die vor kurzem für rund 1,9 Milliarden Franken von der SBB bestellt wurden.

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