Nahverkehr:Metro in Paris: Millionen Passagiere zwischen Chaos und Kampfsport

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Laut, eng, riecht nach Hektik: Die volle Metro ist Pariser Alltag. Doch das Auto ist wegen der Stauprobleme keine Alternative.

(Foto: AFP)

350 Kilometer Stau pro Tag, ständig schlechte Luft: Die Bürgermeisterin von Paris kämpft vehement gegen das Auto. Doch der veraltete Nahverkehr hält dem Andrang nicht stand.

Von Leo Klimm

Der Gestank von Müll und Urin in der Station, ausfallende Vorortzüge, fehlende Bahnsteig-Zugänge für Menschen mit Behinderung - oder auch mit Kinderwagen. Und dann das Gedränge zu den Stoßzeiten, wenn sich die Pendler so eng in die Waggons zwängen, dass man froh sein muss, ohne Quetschungen wieder herauszukommen. So läuft das in der Regel in der Pariser Metro. In den überfüllten Trams, die seit einigen Jahren in den Außenbezirken der Stadt fahren, ist es nicht besser. Die Busse wiederum sind nicht nur voll. Sie kommen auch nur im Kriechtempo voran.

350 Kilometer Stau gibt es täglich in und um Paris. Das Auto ist für die meisten damit erst recht keine Option. Außer, es geht nicht anders: Streiks bei den Verkehrsbetrieben sind zwar selten geworden. Wenn es sie aber gibt, wie in dieser Woche, ist alles noch schlimmer. Diesen Dienstag gab es einen neuen Stau-Rekord: 550 Kilometer.

Nahverkehr in der französischen Hauptstadt, das bedeutet für Millionen Menschen jeden Tag ein wenig Kampfsport und viel Chaos. Die Bewohner des Pariser Großraums Île-de-France nennen ihre öffentlichen Verkehrsmittel oft "la galère" - die Galeere. Ihre Mühsal ist eine direkte Folge der zentralistischen Struktur Frankreichs. Zwölf Millionen Einwohner hat die Region. Von ihnen muss täglich ein großer Teil nach Paris, das mit 21 000 Einwohnern je Quadratkilometer viermal so dicht bevölkert ist wie London oder München.

8,3 Millionen Fahrgäste befördern die Verkehrsanbieter der Seine-Metropole jeden Tag. Allein 1,2 Millionen sind es auf der S-Bahn-Linie RER A, Europas meistbenutzter Bahnstrecke, der wichtigen Ost-West-Achse. "Der kleinste Störfall führt hier zu Verspätungen in Serie", räumen die Verkehrsbetriebe RATP selbstkritisch ein. "Die Infrastruktur erlaubt es uns nicht, Probleme zügig zu beheben." Besserung verspricht sich das Unternehmen ausgerechnet von einer - leichten - Verringerung des S-Bahn-Takts: In der Rushhour fahren seit diesem Monat nicht mehr 30 Züge pro Stunde auf der Linie A, sondern 27. Der hohe Takt ließ sich wegen der Menge an Menschen, die in jedem Bahnhof ein- und ausstiegen, nicht halten.

Die veraltete U-Bahn ist extrem störanfällig

Vor allem aber soll der Nahverkehr mit dem Projekt "Grand Paris" ausgebaut und modernisiert werden, um ihn den stetig wachsenden Fahrgastzahlen anzupassen. Schließlich ist die RER 40 Jahre alt. Und der Métropolitain mag nach 1900 verkehrstechnisch und mit seiner Jugendstil-Architektur ästhetisch Maßstäbe gesetzt haben. Heute ist die U-Bahn wegen ihrer teils veralteten Technik extrem störanfällig. "Problème de signalisation", lautet die Bahnsteigdurchsage oft. Signalprobleme. Erst drei der 14 Linien werden fahrerlos gesteuert - was einen engeren Takt ermöglicht.

"Grand Paris" soll dem öffentlichen Personenverkehr bald einen ähnlichen Modernisierungsschub verleihen wie einst der Métropolitain. Bis 2030 sind neue Ring-U-Bahnen mit einer Gesamtlänge von 200 Kilometern und 68 Bahnhöfen geplant. Das verdoppelt fast das bestehende Netz und soll die Stadt entlasten, weil dann nicht mehr jeder Weg fast zwingend durch sie hindurchführt wie durch einen Flaschenhals. Im Süden ist die Ringbahn schon in Bau: 2022 dürfte die neue Linie 15 fertig sein. Bis 2025 soll auch ein Großteil der S- und U-Bahnhöfe behindertengerecht sein.

Setzen die Politiker die richtigen Prioritäten?

Doch "Grand Paris" ist teuer, sehr sogar. Etwa 35 Milliarden Euro sind für die Vorhaben veranschlagt. Mit Blick auf die Staatsverschuldung bremst Frankreichs neue Regierung unter Präsident Emmanuel Macron den Eifer der Regionalpolitiker jedoch. Gelegentlich ist von einer Fertigstellung aller neuen Metro-Linien erst im Jahr 2045 die Rede. Für die Regierung hat Vorrang, dass der Flughafen Charles de Gaulle bis zu den Olympischen Spielen 2024 eine Nonstop-Bahnanbindung bekommt. Hunderttausende Olympia-Besucher sollen dann vom Airport aus mit modernen Zügen in 20 Minuten in die Stadt fahren - und sich nicht in der berüchtigten RER-Bahn mit ihren häufigen Stopps plagen.

Diese Prioritätensetzung ruft Kritik hervor: "Wir hätten gern, dass bei den Alltags-Verkehrsmitteln genauso viel politischer Wille erkennbar wäre", sagt Marc Pélissier, Vorsitzender des regionalen Fahrgastverbandes. Er beklagt die Vernachlässigung bestehender Nahverkehrsmittel, die doch von weit mehr Menschen genutzt würden als die Flughafenbahn. Auch darauf, dass die U-Bahn wie in anderen Weltmetropolen rund um die Uhr fährt, warten die Bürger vergeblich. Dabei war das ein Wahlversprechen der seit 2014 amtierenden Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo.

Die Bürgermeisterin kämpft gegen das Automobil

Hidalgo aber konzentriert sich in ihrer Verkehrspolitik lieber auf den Kampf gegen das Gesundheitsrisiko Automobil, zumindest jenes mit Verbrennungsmotor. Nach Angaben der Stadt hat das Autoaufkommen in Paris seit 15 Jahren zwar schon um 31 Prozent abgenommen. Die Staus schrecken ab - und das Monatsabo der Verkehrsbetriebe ist günstig: Es kostet nur 72,50 Euro und erlaubt freie Fahrt im gesamten Großraum. Zudem kündigte Hidalgo ein Verbot von Dieselmotoren im Jahr 2024 an; Benziner trifft der Bann ab 2030. Schon in den nächsten Jahren soll stadtweit nur noch Tempo 30 erlaubt sein. Eine Schnellstraße am Seine-Ufer hat Hidalgo schon dichtgemacht. Sehr zum Ärger vieler Autofahrer und benachbarter Vorstädte, die nun umso stärker unter Stau leiden.

"Wir unternehmen einen Paradigmenwechsel bei der Mobilität", sagt Hidalgo. "Je mehr Alternativen wir anbieten, desto leichter wird der Verzicht aufs eigene Auto." Zur Zukunftsvision der öffentlichen Verkehrsmittel der Bürgermeisterin und ihrer Amtskollegen im Umland gehören etwa Seilbahnen oder fahrerlose Elektrobusse, wie sie derzeit im Büroviertel La Défense getestet werden. Auch die Seine als Wasserstraße soll stärker genutzt werden. Carsharing mit Elektroautos bietet Paris zwar schon - allerdings muss das Ladenetz massiv ausgebaut werden, soll der Verbrennungsmotor wirklich verschwinden.

"Mein Vorbild ist Kopenhagen", sagt Hidalgo. "Diese Stadt ist uns 30 Jahre voraus." In der dänischen Hauptstadt gibt es mehr Fahrräder als Autos. Paris besitzt mit "Vélib" zwar seit 2007 ein System öffentlicher Leihräder. Zurzeit fluten außerdem private asiatische Bikesharing-Anbieter die französische Kapitale. Trotzdem bleibt Radfahren in Paris etwas für Wagemutige oder für leichtsinnige Touristen. Der Ausbau der Radwege kommt allen Bekenntnissen zum Trotz nur schleppend voran. Also tun sich die meisten weiter die "galère" an.

Die SZ berichtet in dieser Serie über den Nahverkehr in den Metropolen der Welt. Lesen Sie alle Folgen unter www.sueddeutsche.de/nahverkehr

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