Süddeutsche Zeitung

Busse & Bahnen:Nahverkehr in Schieflage

Wegen der Corona-Krise sind den Betreibern von Bussen und Bahnen die Einnahmen weggebrochen. Nun springt der Staat mit einem Rettungspaket ein. Doch kommen die Fahrgäste zurück?

Von Marco Völklein

Ob in Münster oder Magdeburg, in Mannheim oder München - Pendler dürften sich aktuell in eine andere Zeit versetzt fühlen. Jedenfalls dann, wenn sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind. Noch vor wenigen Wochen waren Busse und Bahnen, insbesondere zu den Hauptverkehrszeiten, gestopft voll. Doch das hat sich mit der Corona-Pandemie geändert: Selbst in ansonsten chronisch überlasteten Münchner S-Bahnen findet man derzeit oft einen Sitzplatz.

Die Corona-Krise setzt dem öffentlichen Nahverkehr zu. Blieben während der ersten Wochen, in denen die Bundesländer das öffentliche Leben schlagartig herunterfuhren, die Fahrgäste einfach nur aus, weil viele von zu Hause aus arbeiteten sowie Schulen und Unis geschlossen waren, so ist es nun bei vielen die Angst vor einer möglichen Ansteckung, die sie hindert, in Busse und Bahnen zu steigen. Derzeit seien bundesweit 40 bis 50 Prozent weniger Fahrgäste unterwegs als in der Zeit vor den Corona-Beschränkungen, sagt Lars Wagner vom Verband deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Während des Lockdowns seien es bis zu 85 Prozent gewesen.

Das bringt die Unternehmen der Branche in Turbulenzen. Denn wo weniger Fahrgäste fahren, kommt auch weniger Geld in die Kasse - wenngleich Berufspendler oft Wochenkarten oder Monatsabos nutzen. Doch weil wegen der Grenzschließungen auch viele Touristen ausbleiben, fehlen den Verkehrsbetrieben Einnahmen aus dem "Bartarif" - also aus dem Verkauf von Einzelfahrscheinen an Automaten. "Über diese Einnahmen, die ja normalerweise regelmäßig reinkommen, sichern viele Unternehmen ihre Liquidität", sagt Wagner. Hinzu kommt: Auch während des Lockdowns hielten die Unternehmen den Betrieb zumindest in einer Grundvariante aufrecht - um zum Beispiel Polizisten, Mediziner und Beschäftigte im Lebensmittelhandel, also Menschen in systemrelevanten Branchen, zu ihren Arbeitsplätzen zu bringen. "Viel heiße Luft" habe man da in dramatisch leeren Bussen und Bahnen durch die Gegend gefahren, sagt ein Insider. Aber es sei eben nötig gewesen - nicht zuletzt, weil Landesregierungen und Bürgermeister darum gebeten hatten.

Bereits vor einigen Wochen hatten sich Fachleute des VDV hingesetzt und errechnet, dass der Branche bis zum Jahresende bis zu fünf Milliarden Euro fehlen werden - eben weil Einnahmen massiv wegbrechen, die Kosten für den Betrieb aber weiterlaufen. Hinzu kommt, dass nun viele Betriebe wegen der höheren Hygienestandards mehr Geld für die Reinigung ihrer Fahrzeuge aufwenden. Auf Länderebene wandten sich Branchenvertreter zum Teil mit drastischen Worten an ihre Ministerpräsidenten und Parlamente und baten um Unterstützung.

2,5 Milliarden Euro kommen vom Bund

In der vergangenen Woche nun wurden sie erhört: Der Bund stellt in diesem Jahr 2,5 Milliarden Euro bereit, um das Minus auszugleichen; weitere 2,5 Milliarden Euro sollen von den Ländern kommen. VDV-Präsident Ingo Wortmann, zugleich Chef der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG), dankte der Bundesregierung für die "wichtige Unterstützung". Auch der Bahnkunden-Verband DBV lobte Berlin ausdrücklich für das Engagement - schließlich ist der öffentliche Nahverkehr eigentlich Aufgabe der Länder. "Leistungseinstellungen oder eine Ausdünnung des bestehenden Angebots" seien jedenfalls "keine Option", erklärte der DBV.

Ganz im Gegenteil: Um die Klimaziele zu erreichen, will die Bundesregierung den öffentlichen Nahverkehr ausbauen. Bis 2030 sollen ein Drittel mehr Busse und Bahnen fahren, auch mehr Güterverkehr soll auf der Schiene laufen. Dazu müssten die Taktzeiten verkürzt und neue Strecken errichtet werden, fordert etwa der Auto Club Europa (ACE). "Und dafür müssen entsprechende Geldmittel aufgebracht werden." Zudem müsse die Branche in die Digitalisierung investieren, beispielsweise in eine "verkehrsmittelübergreifende Mobilitäts-Plattform". Der "Umbau des Verkehrs hin zu mehr Klima- und Umweltschutz" dulde keinen Aufschub, erklärt der DBV. Und der ACE ergänzt: Fahren mehr Busse und Bahnen, sei es besser möglich, die Abstandsregeln einzuhalten. "Das steigert das Sicherheitsgefühl der Passagiere."

Denn das ist nach wie vor das größte Problem, wie auch VDV-Sprecher Wagner einräumt: Bei vielen Menschen gilt der öffentliche Nahverkehr als eine Art "Virenschleuder", viele sind aufs Fahrrad oder Auto umgestiegen. Was aber passiert im Herbst, wenn das Wetter schlechter wird? Und wie kann das Vertrauen der Kunden zurückgewonnen werden, solange die Welt auf einen Impfstoff gegen Sars-CoV-2 wartet? Oder gar die Herdenimmunität? Abschließende Antworten darauf sucht die Branche noch. Zuletzt warb Hendrik Wüst, CDU-Verkehrsminister in Nordrhein-Westfalen, bei einem Termin am Essener Hauptbahnhof für eine verstärkte Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel. "Ich möchte, dass die Leute wieder Bahn fahren - zu Recht mit einem guten Gefühl", sagte Wüst. So würden die Regionalzüge nun im Schnitt drei- statt zweimal am Tag gereinigt, insbesondere die Kontaktflächen wie Haltestangen, Glasscheiben oder Toilettensitze. "Die Menschen sollen wissen, dass Bahnfahren auch in Zeiten von Corona eine saubere und sichere Sache ist."

Klar ist aber: Wollte man das Fahrgastniveau aus der Vor-Corona-Zeit erreichen und zugleich die Abstandsregeln voll einhalten, müssten die Verkehrsbetriebe etwa fünf Mal mehr Busse und Bahnen fahren lassen, rechnet Wagner vor. "Das ist jedoch völlig illusorisch." Etwa weil die Fahrzeuge fehlen, auch weil auf vielen bestehenden Strecken, beispielsweise bei den U- und den S-Bahnen, keine Kapazitäten mehr frei sind.

"Und weil wir schlicht nicht das Personal dafür finden", sagt Wagner. Tatsächlich ist der Mangel beim Fahrpersonal eklatant - die Branche sucht händeringend Mitarbeiter. Weil die Betriebe über viele Jahre sparen mussten, kürzten sie immer wieder bei den Belegschaften: Tarifverträge wurden geschliffen, Fahrpersonal in Tochterfirmen mit niedrigeren Lohnniveaus verlagert; zudem wurde die Arbeit immer mehr verdichtet - aus Sicht der Gewerkschaft Verdi ist es kein Wunder, dass angesichts solcher Entwicklungen kaum noch jemand in der Branche anheuert. Das spüren auch die Fahrgäste: Laut einer Verdi-Befragung unter Betriebsräten kämpfen 60 Prozent der ÖPNV-Unternehmen mit Fahrtausfällen, weil Fahrerinnen und Fahrer fehlen. In größeren Städten fällt es zwar weniger auf, wenn hin und wieder mal ein Bus oder eine Bahn ausfällt als auf dem flachen Land mit den dort weniger dichten Takten - alles in allem machen solche Entwicklungen aber das System der "Öffis" nicht gerade attraktiver.

Die Verdi-Strategen hatten deshalb geplant, in diesem Jahr eine groß angelegte Offensive zu starten. In mehreren Bundesländern laufen Tarifverträge aus. Über Jahre hatten die Gewerkschafter darauf hinverhandelt, die Laufzeiten zu koordinieren - um nun in einer möglichst großen, bundesweit koordinierten Tarifauseinandersetzung mehr Geld und bessere Bedingungen für das Fahrpersonal herauszuholen, notfalls auch mit Streiks. Die Schieflage der Branche infolge der Corona-Krise hat das nun nicht gerade einfacher gemacht.

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SZ vom 13.06.2020/reek
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