Süddeutsche Zeitung

Verkehr:Wie Hamburg die Mobilitätswende schaffen will

In der Hansestadt werden Hunderte Kilometer neue Radwege gebaut. Die Stadt will zu den Fahrradhauptstädten Stockholm und Amsterdam aufschließen.

Von Peter Burghardt

Wenn Hamburgs Verkehrssenator auf Fotos zu sehen ist, was seit seiner Ernennung recht häufig geschieht, dann meistens mit seinem schwarzen Fahrrad. Trifft man Anjes Tjarks zum Gespräch, so kommt er auch gerne angeradelt und erläutert seine Pläne sowie die Hindernisse im Rahmen einer Radtour durch sein Revier. Beliebter Startpunkt ist der Jungfernstieg, ein Symbol des Hamburger Umbaus.

Für den motorisierten Individualverkehr, wie sich das nennt, ist dieses Südufer der Binnenalster seit einiger Zeit gesperrt. Durchfahren dürfen nur noch Linienbusse, Taxis und Elektroautos, in der Mitte der Straße wurden Verkehrsinseln mit Blumenkästen installiert. Nicht jeder hält sich an die Regeln, aber Fußgänger und Radfahrer wissen diese Verkehrsberuhigung zu schätzen, wobei von deren Binnenverhältnis noch zu reden sein wird.

Dem Grünen-Politiker Tjarks, 40, kann man dabei nicht vorwerfen, dass er die motorenlose Bewegung erst im Rahmen seines neuen Jobs entdeckt hat. Er fuhr schon früher bevorzugt Fahrrad, zum Beispiel aus seinem ehemaligen Wohnort Jenfeld im Hamburger Nordosten ins Gymnasium - über einen Radweg, der damals schon kaputt war. Seit Juni 2020 allerdings hat sich seine Zuneigung noch verstärkt, denn da wurde der Lehrer, Politologe und vormalige Fraktionsvorsitzende der Grünen in der Hamburger Bürgerschaft der erste Senator für Verkehr und Mobilitätswende.

Vor hundert Jahren pilgerten Kopenhagener nach Hamburg, um eine Fahrradstadt zu sehen

SPD-Bürgermeister Peter Tschentscher holte ihn in seinen rot-grünen Senat, um eben diese Mobilitätswende in Schwung zu bringen. Das Fahrrad spielt dabei eine wesentliche Rolle, denn die Hansestadt besinnt sich ihrer Vergangenheit. Anjes Tjarks erinnert daran, dass der erste Fahrradklub der Welt in Hamburg entstand. Es war der Altonaer Bicycle-Club von 1869/80, gegründet unter dem schönen Namen Eimsbütteler Velozipeden-Reit-Club in eben jenem Stadtteil Eimsbüttel. Unter den Gründern war der mutmaßlich erste deutsche Fahrradhändler, Harro Feddersen hieß er.

Bis zum Zweiten Weltkrieg seien die Leute aus Kopenhagen nach Hamburg gepilgert, um zu sehen, was eine Fahrradstadt sei, berichtet Tjarks. Unterdessen ist es umgekehrt, weil sich Hamburg inzwischen in eine Autostadt verwandelt und auch seine Straßenbahn abgeschafft hatte. Das soll sich nun ändern: "Hamburg wird Fahrradstadt", heißt es im Koalitionsvertrag von SPD und Grünen, in dem das Wort "Rad" 93 Mal vorkommt.

"Die Förderung des Radverkehrs", steht in dem Papier, "ist ein effektives, klimafreundliches und kostengünstiges Mittel, um die Verkehrswende in Hamburg umzusetzen." Der Anteil des Radverkehrs solle im Laufe dieses Jahrzehnts auf 25 bis 30 Prozent gesteigert werden. Tjarks verspricht in diesem Jahr 60 bis 80 Kilometer neue oder reparierte Radwege und "perspektivisch" 100 Kilometer jährlich. Er schwärmt von Digitalisierung, Vernetzung, Carsharing, Leihrädern. "Der Radsherr muss liefern!", verfügte die Hamburger Morgenpost. Liefert er?

Im Januar 2021 meldete seine Behörde für 2020 den Neubau oder die Sanierung von 62 Kilometern Radnetz. Das sei Rekord, 63 Prozent mehr als 2019. Bald werden die nächsten Zahlen erwartet. Wer bei Wind und Wetter offenen Auges auf einem Veloziped durch Hamburg rollt, der mag seine eigene Zwischenbilanz ziehen nach ungefähr eineinhalb Jahren der institutionalisierten Verkehrswende.

Ja, es tut sich etwas. Auf Hauptstraßen wie zum Beispiel dem Ballindamm oder der Hallerstraße gibt es plötzlich breite Pop-up-Lanes, was zwar Autofahrer nervt, weil sie nur noch einen Fahrstreifen haben, aber Fahrradfahrer erfreut, weil sie auf einmal sogar mit dem Lastenrad Platz finden. Ein paar Ecken weiter dagegen ruckelt der Fahrradfahrer wahlweise über Kopfsteinpflaster, zugeparkt mit SUVs, oder muss sich von Anwohnern oder der Polizei belehren lassen, wenn er ersatzweise den Fußweg benützt.

Hamburg wird zur Fahrradstadt; der Stau wird dadurch aber zunächst nicht geringer

Selbst Fußwege mit Radwegen sind eine Kampfzone, weil farblich oft nur leicht voneinander abgesetzt. Wer seinen Fuß auf einen Radweg setzt oder umgekehrt sein Rad auf einen Fußweg, scheint eine Art Menschenrechtsverbrechen zu begehen. Zur Deeskalation wurde kürzlich das "Bündnis für den Radverkehr" in ein "Bündnis für den Rad- und Fußverkehr" verwandelt. Fußgänger finden, dass Fahrradfahrer tendenziell auf die Straße gehören, zumal der eine oder andere Mensch im Sattel dazu neigt, ohne Rücksicht auf Verluste über Radwege auf dem Gehsteig zu brettern.

Andererseits ist die Straße mitunter eine Todeszone für Fahrradfahrer, besonders berüchtigt sind rechtsabbiegende Lkws. Noch dazu wurden manche Radwege zwischen zwei Fahrstreifen für Autos auf den Asphalt gemalt, da wird es nicht nur zwischen zwei Lastwagen ungemütlich. Die Planer versuchen nun, Autos, Radler und Gehende durch möglichst abgetrennte Spuren zu leiten, einfach ist das nicht.

Der städtische Platz wird ja nicht mehr, außerdem liegt das schöne Hamburg an zwei größeren Gewässern. Von Nord nach Süd die Alster, von Ost nach West die Elbe, das macht nicht unwesentlich den Reiz der Stadt aus, erschwert allerdings etwas die Verkehrsführung. Wie mittlerweile fast jeder weiß, besitzt Hamburg mehr Brücken als Amsterdam und Venedig zusammen. Und einen staugeplagten Elbtunnel. Gleichzeitig lässt es sich am Westufer der Außenalster schon angenehm radeln, auch auf einer Fahrradstraße mit Tempo 30 für die Autos. Am Ostufer soll das Chaos verschwinden, wenn dort fertig gebaut ist. Die Hamburger Baustellen: So um die 700 sind es derzeit.

"Für eine echte Mobilitätswende brauchen wir mehr Platz fürs Rad, auf den Straßen und in den Köpfen", schreibt die Hamburger Abteilung des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs, des ADFC. Anjes Tjarks findet, man habe sich lange genug ums Auto gekümmert. Das Auto verbrauche zu viel Fläche, die Zeit für neue Konzepte sei reif. Der Fahrradfahrer und Verkehrssenator erzählt, wie ihm jemand um den Hals fiel, als sie am Schlump beim Schanzenviertel die erste Pop-up-Bikelane eröffneten.

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