Süddeutsche Zeitung

Mobilität von morgen:Vorfahrt fürs Fahrrad

In der Verkehrspolitik wird immer noch dem Auto der größte Stellenwert eingeräumt. Doch die urbane Mobiliät sieht mittlerweile anders aus - vor allem die Nutzung des Fahrrades nimmt zu. Dies könnte zum Kernstück einer neuen Verkehrspolitik werden.

Deutschland ist kein Autoland. 70 Millionen Fahrräder gibt es in deutschen Haushalten, deutlich mehr als Autos. Doch Studien zeigen, dass sich jeder zweite Radler nicht sicher fühlt, weil Autofahrer zu wenig Rücksicht nehmen würden. Sie fordern breitere Radwege und sehen die Bundesregierung in der Pflicht, diese bereitzustellen. In punkto Fahrradfreundlichkeit bekommebn die Politiker in einer Umfrage des Fahrradclubs ADFC gerade einmal die Schulnote 3,8 - ausreichend.

Zwei Millionen Menschen in Deutschland nutzen ihr Fahrrad nach Angaben des Instituts für Verkehrsforschung im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt täglich für den Weg zur Arbeit. Diese Erhebung stammt aus dem Jahr 2008 - inzwischen dürfte die Zahl der Fahrradpendler weiter zugenommen haben. Denn: Wer mit dem Fahrrad zum Dienst fährt, startet entspannter in den Arbeitstag. Radeln hilft Stresshormone abzubauen, hat eine Studie der Deutschen Sporthochschule Köln ergeben.

Vor allem in Großstädten ist das Fahrrad inzwischen nicht mehr nur Freizeit- oder Sportgerät. "Für kurze Strecken ist es einfach das bessere Verkehrsmittel", sagt ADFC-Experte René Filippek. Laut Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) machen Fahrräder inzwischen zehn Prozent des gesamten Verkehrs in Deutschland aus. Besonders junge Leute steigen aufs Rad: Im Berliner Szenebezirk Friedrichshain-Kreuzberg stellen die Radler laut Verkehrssenat sogar 21 Prozent des Gesamtverkehrs.

Das neue Stichwort heißt urbane Mobilität. "Es gibt eine Generation, die bewusst aufs Auto verzichtet und stattdessen Fahrrad, Bahncard und Carsharing kombiniert", erklärt Gunnar Fehlau, Autor und Journalist mit dem Schwerpunktthema Fahrrad. Auf dem Weg zur Arbeit steigen Städter oft erst aufs Rad, dann in die U-Bahn. Klappbare Räder sind in.

Zuwachs verzeichnet die Branche aber vor allem bei Elektrorädern - im vergangenen Jahr allein um 55 Prozent. "Das E-Bike nimmt der Leidenschaft fürs Fahrrad das Leiden", sagt Fehlau. Doch mit dem E-Bike-Markt wächst auch die Angst vor Unfällen. Die Fahrräder mit Elektromotor kommen auf 25 Stundenkilometer. Forderungen nach Helmpflicht und Führerscheinen werden laut.

Doch das sieht der ADFC anders: "Wer regelmäßig normale Fahrräder fährt, ist nicht unbedingt langsamer", betont ADFC-Experte Filippek. Ein Helm verhindere auch keinen Unfall. Das sehen viele deutsche Fahrradfahrer anscheinend ähnlich und verzichten auf den Kopfschutz. Stattdessen müsse sich auf den Straßen etwas ändern, fordern sie. "Wir vermissen das Engagement der Politik", kritisiert Filippek. Radwege auf Bürgersteigen seien nur bei niedrigen Geschwindigkeiten sinnvoll. Gebraucht würden markierte Fahrrad-Streifen auf der Straße, auf denen Radler gut gesehen werden. "Aber die Politik traut sich nicht, Autofahrern Platz wegzunehmen."

Experten wie Stephan Rammler vom Institut für Transportation Design der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig wollen deshalb eine "mutige und radikale Neuerfindung der Mobilitätspolitik". Statt des Straßenverkehrs müssten kollektive und integrierte Verkehrssysteme im Mittelpunkt stehen, forderte Rammler im November 2011 auf der fünften Fahrradkommunalkonferenz. Mobilität müsse heutzutage vom Gesamtsystem her gedacht werden - und nicht wie wie bislang von den einzelnen Verkehrsträgern und "unter der Annahme einer quasi natürlichen Vorrangstellung des Automobils".

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