Süddeutsche Zeitung

Mobilität im Wandel:Alles in Bewegung

Die Lebensstile der Deutschen ändern sich von Grund auf. Mobilität muss heutzutage sozial, zukunftsfähig, ökologisch und ökonomisch sein. Mehr noch, sie muss komplett neu erfunden werden. Eine Bestandsaufnahme.

Claus Tully

Verkehr handelt von Straßen und Fahrzeugen, Mobilität schließt zusätzlich Lebensstile, Verhaltensweisen und Gewohnheiten ein. Bis in die 70er Jahre wurden verkehrstechnische Systeme geplant indem Fahrzeuge und Fahrwege aufeinander abgestimmt wurden. Auf steigende Verkehrsbelastung, da immer mehr Autos über die Straßen rollten, wurde mit dem Ausbau von Straßen geantwortet. Und in der Tat wuchs der Fahrzeugbesitz zügig. Der Zuwachs im Bereich der Autonutzung stand für gesellschaftlichen Fortschritt, und für junge Menschen war es normal, mit 18 Jahren den Pkw-Führerschein zu machen um anschließend ein eigenes Auto zu besitzen.

Trotz des Angebots, den Führerschein schon mit 17 zu erwerben, verzichtet in den Städten heute eine wachsende Zahl junger Erwachsener auf ein eigenes Auto. Zwei Drittel der jungen Menschen lebt in der Stadt und organisiert fortschreitend die eigene Mobilität multimodal, das heißt, dass wegeabhängig verschiedene Fahrzeuge genutzt werden. Jugendliche in Großbritannien, Japan, Spanien und in den USA machen das ebenso. Dass Mobilitätsangebote kombiniert werden, zeigt ein verändertes Verkehrsverhalten an. Die Prognose: Sobald Elektroautos alltäglich sind, wird es lange Urlaubs-Autofahrten seltener geben, begrenzte Reichweiten der Fahrzeuge sprechen für die Nutzung unterschiedlicher Verkehrsmittel.

Die Wende von der Verkehrs- zur Mobilitätsforschung

Auch das Verhältnis zur Straße wird neu geordnet. Schon von den 70er Jahren an wurde für Spielstraßen und Fußgängerzonen oder erste verkehrsberuhigte Wohnstraßen dem Auto die Straße weggenommen. Doch trotz solcher Experimente dominierte bis in die 90er hinein eine technisch akzentuierte Verkehrsforschung. Die Bestandserhebung zum Verkehrsgeschehen wurden 1976, 1982 und noch 1989 unter der Überschrift "kontinuierliche Erhebung zum Verkehrsverhalten" (KONTIV) realisiert. Erst danach wurden sie mit "Mobil in Deutschland" überschrieben. Ganz nebenbei wird so auf soziale Aspekte des Unterwegsseins hingewiesen.

Die Wende von der Verkehrs- zur Mobilitätsforschung hat mit einem gewachsenen Bedürfnis nach flexibler Erschließung von Lebensräumen zu tun. Wo und wie arbeiten Menschen? Wie steht es um die Schulwege, wo essen Kinder, zu Hause, in der Schule, wie funktioniert Betreuung nach dem Unterricht? Wie sehen die Anschlussaktivitäten aus? Dies sind zugleich die zentralen Fragen nach der Multilokalität der modernen Gesellschaft.

Die Autohersteller interessieren sich nun für den Lebensstil ihrer Kunden

Nun lassen sich Autohersteller seit langem von der Psychologie und Soziologie beraten. Neu ist, dass sie diese Experten nun auch befragen, um mehr über Lebensstile und Lebenssituationen zu erkunden. Warum kommt dieser Perspektivenwechsel gerade jetzt? Gewandelte Lebenswelten, in denen die Menschen heute leben, spielen hier eine zentrale Rolle, und die sind flexibel und hoch dynamisch. Arbeits- und Lebenswelten verändern sich und produzierten multilokale Verhältnisse. Diese vielschichtigen Verhältnisse können nicht mehr mit einem Fahrzeug bedient werden. Verkehrsmittel werden, abhängig von besonderen Umständen, also bedürfnisbezogen ausgewählt und genutzt.

Wie sehen moderne Lebenswelten aus? Sie sind flexibel und nutzen deshalb immer häufiger unterschiedliche Fahrzeuge. Einfache klar konturierte Lebensformen verschwinden. 3,8 Millionen Menschen ziehen jährlich in Deutschland um, aber es ziehen nicht mehr Menschen um als vor 30 Jahren, etliche vermeiden den Umzug und pendeln stattdessen. 40 Prozent der 25- bis 45-Jährigen leben als Singles, sie repräsentieren also einen mobilen Freizeitalltag. Vermutlich lebt annähernd der Rest in einer Partnerschaft. Dabei muss es sich nicht um die Familie klassischen Zuschnitts handeln.

Auch hier sind die Lebensmodelle variantenreich. Die Zahl der Patchworkfamilien wächst. Das heißt aber, dass es neben dem innerfamiliären Leben eines gibt, das durch die Bezüge zu Vätern oder Müttern der Herkunftsfamilie entsteht. Dies betrifft die Scheidungskinder, also etwa 150 000 in Deutschland. Eine andere Lebensform sind die LAT's (Living apart together). Etwa jede siebte Partnerschaft ist so organisiert, sie stellt eine bedeutende Teilgruppe der zum Wochenende fahrenden Fernpendler.

Auch die Zahl der Personen die in Teilzeit- und geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten, stieg in den letzten Jahren enorm an. Derzeit arbeiten etwa 7,4 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so. Wer aber einen Minijob hat, geht vermutlich noch anderen Beschäftigungen nach. Zugleich steigt die Zahl der in befristeten und/oder teilzeitlichen Arbeitsverhältnissen Beschäftigten. Wer aber einer befristeten Tätigkeit nachgeht, kann wiederum keinen langfristigen Kreditvertrag für den Autokauf abschließen. Und wer zum Wochenende mal schnell 400 oder 600 Kilometer pendelt, wird die Reise nicht zwingend mit dem Personenwagen zurücklegen - nicht zuletzt aus Kostengründen.

Trotz Videokonferenzen und Internet sinkt die Zahl von Geschäfts- und Dienstreisenden übrigens nicht, sie steigt sogar an. Die Mobilitätsanbieter beschäftigen weltweit die meisten Menschen. Gelebt werden globale, weiterräumige Lebenszusammenhänge, Kommunikations- und Mobilitätstechnik macht Räume gestaltbar. Im modernen Alltag muss eine jede und ein jeder sich selbst darum bemühen, mit der Vielfalt der Lebensverhältnisse zurechtzukommen. Auf Offerten in der Bildung und Beschäftigung muss immer flexibler reagiert werden.

Die Arbeits- und Bildungswege sind heute länger als noch vor 50 Jahren. Mobilsein ist eine Grundanforderung mit der Kinder aufwachsen. Der Grundsatz "kurze Beine kurze Wege" bedeutet in der Praxis, dass wenn die Beine länger werden, das auch für die Schulwege gilt. Und da in der Schule Freundschaften geschlossen werden, damit auch die Wege zu den Freunden länger sind. Für Jugendliche gewinnen also überregionale Zusammenhänge an Bedeutung, gelebte Lebenszusammenhänge sind weiträumig - eine Entwicklung, die mit dem Internet und der Zusammenlegung von Schulen sogar noch verstärkt wird.

Die heute aufwachsende Generation kann sich Räume nicht mehr einfach aneignen. Sie leben in Parallelwelten, wozu sie ein eigenes Raummanagement entwickeln, um den konkreten physischen Raum und die "Spaces" zu einem "gelebtem Raum" zu kombinieren. Dieses Muster scheint sich zu verallgemeinern. Ein Beispiel: Man befindet sich in der Arbeit und ist gleichzeitig in sozialen Netzwerken eingeloggt. Oder man ist im Urlaub und checkt dort die Mails. Immer häufiger sind unterschiedliche Teilwelten wie Schule, Familie, Peergroup oder Job gleichzeitig wichtig. Statt "entweder oder" gilt der Grundsatz "sowohl als auch". Gelebt wird das Nebeneinander von Bildung, beruflicher Perspektive, von Job, Familie, Freunde und, Liebe, fingierte und präferierte Identitäten (die zumindest im Netz nebeneinander existieren). Dies zu koordinieren ist keine einfache Aufgabe.

Die sozialen Beziehungen werden komplexer und sie müssen flexibel gestaltet werden. Der zeitgemäße Imperativ "sei mobil" unterstellt die freie Gestaltbarkeit von Raumbezügen. Im zugehörigen Werkzeugkasten muss sich neben unterschiedlichen Verkehrsmitteln auch viel kommunikationsbezogene Technik finden. Kommunikationstechnik und Verkehrsmittel gehören zusammen, das ist seit dem Eisenbahnbau so. Neuerdings jedoch, so scheint es, spielt die Kommunikationstechnik bei der Gestaltung der Raumbezüge die größere Rolle. Einfache Lösungen auf Basis einer bestimmten Verkehrstechnik erscheinen da anachronistisch. Mit der Vieldeutigkeit, die zu managen ist, es entstehen neue Gestaltungschancen und -notwendigkeiten. In der Industriegesellschaft ging es noch um die bloße Überwindung von Raum, wozu das funktionale Mittel der Verkehrstechnik entwickelt wurde.

Die Anbieter reagieren auf die flexibilisierten Lebensverhältnisse. Autohersteller, wie auch die Bahn bieten inzwischen Autos auf Zeit an, sie wissen um die Kombination von Verkehrsmitteln, die abhängig vom Weg ausgewählt werden. Damit wird einer gewachsenen Individualisierung Rechnung getragen: Jeder muss sehen wie er seinen Alltag geregelt kriegt. Wenn alles flexibel wird, entfallen einfache Ortsbezüge. Arbeit war früher eine Sache, die im Betrieb, im Büro, im Amt ihren Ort hatte.

Reisezeit kann heute effektiv genutzt werden

Heute geht Arbeit unterwegs, und das gilt auch für Kommunikation. Unterwegssein ist nicht mehr einfach verlorene Zeit, die es mit einem schönen Auto angenehm zu gestalten gilt, sondern es ist Zeit, die genutzt werden kann - für Kommunikation, Spiel und Arbeit. Moderne Kommunikationstechnik entkoppelt, flexibilisiert, macht ortsunabhängig und ordnet den Alltag und das Unterwegssein neu. Sie wirkt aber weiter und gibt nützliche Hilfen an die Hand, um den flexiblen Alltag selbst zu bewältigen. Individualisierte Verkehrsmittelnutzung wird erleichtert, Mobilitätsplanung wird transparenter. Wo das nächste öffentliche Fahrrad oder ein auf Zeit zu mietendes Auto steht, lässt sich auf dem Smartphone ablesen. Auf das Handy können Fahrpläne noch vor Ankunft an der Haltestelle geladen werden, die faktischen Ankunfts- und Abfahrtszeiten geprüft, es können Fahrpreisvergleiche angestellt, Fahrrouten ermittelt und Tickets gekauft werden.

Wo stehen wir heute? Es geht um angemessene Mobilitätsangebote. Eine flexible zielabhängige Verkehrsmittelnutzung, mal Auto, mal Rad oder was auch immer gehört dazu. Vermutlich ist die Sicherung von Lebensqualitäten mit der Rücksicht auf Lebensumstände verbunden. Mobilität kann nachhaltig und das heißt sozial, zukunftsfähig, ökonomisch und ökologisch sein, womit das traditionelle Bild vom Verkehr unter neue Bedingungen gestellt wird. Mobilität muss also neu erfunden werden, um ihrem Auftrag, die Menschen zusammenzubringen, zu erfüllen.

Der Autor ist Lehrbeauftragter am DJI (Deutsches Jugendinstitut München), FU Berlin und FU Bozen, sowie Hochschullehrer am Promotionskolleg mobil.LAB an der TU München.

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Quelle:
SZ vom 23.04.2012/goro
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