Süddeutsche Zeitung

Mobilität im Alter:In der Grauzone

Ältere Menschen kommen im Straßenverkehr besonders häufig zu Schaden. Um das zu ändern, sind nicht nur die Senioren selbst gefordert. Auch Politik und Industrie können die alarmierende Unfallstatistik verbessern.

Von Joachim Becker und Steve Przybilla

Gas geben und Spaß haben: Aktive 65-Jährige wollen auf keinen Fall zum "alten Eisen" gehören. Im Gegenteil, nach dem Berufsleben geht die Party erst richtig los. Wenn die Kinder aus dem Haus sind, stehen Reisen und ein neuer Wagen ganz oben auf der Wunschliste der kaufkräftigen Alten: "Bereits im vergangenen Jahr war mehr als ein Drittel der Neuwagenkäufer älter als 60 Jahre", sagt Ferdinand Dudenhöffer, Direktor des Center Automotive Research in Duisburg.

40 Prozent der über 60-jährigen Bundesbürger sind mit einem deutschen Edelauto unterwegs. Die teuren, gut ausgestatteten Wagen sollen nicht das tatsächliche, sondern das empfundene Alter widerspiegeln - das heute oft zehn bis 15 Jahre unter dem körperlichen liegt. Deshalb sind jugendlich-sportliche Autos beliebt. Die wenigsten aktiven Senioren wollen ein Seniorenauto, das weiß jeder Experte in der Branche.

Die Anforderungen der Silver Generation

In der Autowerbung taucht die Generation der konsumfreudigen und mobilen Alten genau deshalb nicht auf. Hochglanzanzeigen und Fernsehspots huldigen dem Jugendkult, obwohl sich jüngere Semester teure Neuwagen kaum leisten können. Die Forever-Youngster, die viel Wert auf Fitness und Gesundheit legen, können sich eher mit quirligen Familien identifizieren als mit den Klischee-Bildern vom immobilen Ruhestand. Entsprechend ist das Alter der Kunden in der Kommunikation tabu: "Wir bauen und vertreiben keine Autos für bestimmte Altersgruppen", heißt es bei den Autoherstellern unisono.

Dabei sind Kompakt-Vans wie der Golf Sportsvan, Mercedes B-Klasse und BMW Zweier Active Tourer präzise auf die Anforderungen der Silver Generation ausgelegt: Sie sehen nicht altbacken, sondern modern aus, obwohl sie mit großen Türöffnungen und einer hohen Sitzposition das Einsteigen erleichtern. Mit ihren kompakten Abmessungen und den großen Glasflächen sind sie besonders übersichtlich und bieten innen trotzdem so viel Platz wie eine größere Limousine: lauter Kriterien, die der Automobilclub von Deutschland (AvD) in einer Liste für ältere Käufer zusammengestellt hat. Nicht zu verachten sind auch die Ausstattungsmöglichkeiten mit neuesten Konnektivitäts- und Assistenzsystemen, die den Umstieg von einem repräsentativen Firmenwagen erleichtern.

Ältere Autofahrer wünschen sich Sicherheit

Dasselbe gilt auch für hochbeinige Crossover- und SUV-Modelle. Fahrzeuge mit Geländewagenoptik werden immer beliebter, weil sie mehrere Bedürfnisse gleichzeitig erfüllen: "Diese Autos suggerieren ein Gefühl von Abenteuer - die Fahrer können damit jung erscheinen - gleichzeitig vermittelt die hohe Sitzposition aber auch Sicherheit", erklärt Dudenhöffer.

Gerade der Punkt Sicherheit steht auf der Wunschliste älterer Autokäufer weit oben. Obwohl die jungen Alten heute im Schnitt viel länger fit sind als frühere Generationen, spüren sie dennoch den Zahn der Zeit: 80 bis 90 Prozent der für das Fahren benötigten Informationen werden durch das Auge aufgenommen. Ein 60-jähriger Autofahrer braucht jedoch achtmal so viel Licht wie ein 20-jähriger, um bei Dunkelheit noch richtig sehen zu können. Altersbedingte Veränderungen zeigen sich auch als Verlängerung der Zeit, die das Auge braucht, bis es ein fixiertes Objekt scharf abbildet. Entsprechend länger dauert die Blickfolge Straße-Tachometer-Straße, zumal im Alter die Blendempfindlichkeit beim Wechsel zwischen hellen und dunklen Zonen zunimmt.

Wo liegen die Grenzen der Fahrtüchtigkeit?

Einschränkungen gibt es meist auch beim Bewegungsapparat und dem Gehör. Im Gegensatz zu unseren europäischen Nachbarn wie Italien und die Schweiz, in denen ab dem siebzigsten Lebensjahr eine regelmäßige Kontrolluntersuchung durch den Arzt vorgeschrieben ist, muss die Fahreignung in Deutschland nicht regelmäßig nachgewiesen werden.

Momentan gibt es nicht einmal gesetzliche Mindestanforderungen für das Seh- und Hörvermögen bei Radfahrern. Dabei sind bereits rund ein Drittel der 65-Jährigen hörbehindert. Hörhilfen können hier sehr nützlich, aber gerade beim Radfahrern auch lästig sein. "Die Windgeräusche sind extrem unangenehm", sagt Carmen Hagemeister, Professorin für Diagnostik und Intervention an der TU Dresden. "Mehrere Projekte haben gezeigt, dass Senioren ihre Hörgeräte deshalb ausschalten oder gleich ganz zu Hause lassen."

Die Frage nach den Grenzen der Fahrtüchtigkeit stellt sich angesichts aktueller Unfallzahlen dringlicher denn je. Senioren fahren zwar meist vorsichtiger als jüngere Verkehrsteilnehmer, Unfälle durch überhöhte Geschwindigkeit oder Alkohol am Steuer bleiben die absolute Ausnahme. Trotzdem waren im vergangenen Jahr 999 Seniorinnen und Senioren ab 65 Jahren unter den 3339 Getöteten auf deutschen Straßen. Obwohl das tödliche Unfallrisiko (vor allem aufgrund des besseren Insassenschutzes) abnimmt, legte die Zahl der über 65-Jährigen unter den Opfern gegenüber dem Vorjahr um 0,5 Prozent zu. 40 Prozent der getöteten Senioren kamen im Pkw ums Leben, 302 ältere Menschen, also rund 30 Prozent, waren als Fußgänger unterwegs. Als Radfahrer starben 197 mobile Alte, belegen die aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamts.

Patentrezepte für eine sichere Mobilität im Alter gibt es nicht. Dafür ist die biologische und mentale Fitness von Person zu Person innerhalb eines Jahrgangs zu unterschiedlich. Sicher ist nur, dass heute die wenigsten beim Renteneintritt auf ihr gewohnt hohes Niveau an Mobilität verzichten wollen. Untersuchungen zeigen, dass regelmäßige Übung sogar eine wesentliche Voraussetzung für die unfallfreie Teilnahme am dichten und oft hektischen Straßenverkehr ist - deshalb sind unerprobte Fahranfänger genauso gefährdet wie ältere Menschen, die wenig fahren.

Umsteiger vom Auto auf das Rad - eine Risikogruppe

Der völlige Verzicht auf das gewohnte Auto kann das Risiko noch erhöhen, wenn der Bewegungsapparat und die Wahrnehmung nicht mehr so gut mitmachen wie früher: "Wenn ältere Menschen mit dem Autofahren aufhören und aufs Rad umsteigen, gelten sie als besondere Risikogruppe", warnt Carmen Hagemeister, "wir müssen gesellschaftlich diskutieren, wem wir vom Radfahren abraten, auch wenn das eine Gratwanderung ist."

Ruhen sich die Deutschen auf ihrer Unfallstatistik aus und verdrängen das Problem der alternden Gesellschaft? Ob regelmäßige Kontrolluntersuchungen, eine gesetzliche Vorschrift für Assistenzsysteme oder die Helmpflicht: In der Bundesregierung kommt niemand auf die Idee, an wichtigen Stellschrauben zu drehen, weil die Angst vor den älteren Wählern zu groß ist. Diese Trägheit könnte sich nun rächen. "Mit rund 2,4 Millionen Unfällen war 2013 das unfallreichste Jahr seit der Wiedervereinigung", sagt Ingeborg Vorndran vom Statistischen Bundesamt, "im ersten Halbjahr 2014 haben wir zudem einen Anstieg der Unfalltoten um 9,5 Prozent." Im vergangenen Jahr sind über 291 000 Personen im Straßenverkehr zu Schaden gekommen. Auffällig dabei: Es sind nicht nur die spektakulären Autobahn-Crashs, die Sorgen bereiten. So waren die ungeschützten Verkehrsteilnehmer, also Radfahrer und Fußgänger, an mehr als einem Drittel aller Unfälle mit Personenschaden beteiligt.

Moderne Technik könnte viele Leben retten

Schaut man genauer hin, lassen sich ungeschützte Verkehrsteilnehmer nochmals untergliedern. Kinder, Senioren und behinderte Menschen gelten als besonders gefährdet, egal ob sie zu Fuß, mit dem Fahrrad oder im Rollstuhl unterwegs sind. Nur ein Beispiel: Von allen Radfahrern und Fußgängern, die 2013 im Straßenverkehr ums Leben kamen, waren mehr als die Hälfte mindestens 65 Jahre alt. Am häufigsten kracht es, weil die Vorfahrt missachtet wird; auf Platz zwei rangieren Abbiege-Unfälle, gefolgt von Zusammenstößen in Einfahrten.

Moderne Technik könnte gerade hier viele Leben retten, glaubt Andre Seeck, Präsident des Euro-NCAP-Crashtests. Vor allem Notbremsassistenten hält er für vielversprechend: "Zwischen dem physikalisch Machbaren und der tatsächlichen Performance ist derzeit noch Luft", sagt Seeck. Mit anderen Worten: Wenn sich die Industrie anstrengt, lassen sich die Systeme noch deutlich verbessern.

Um die Hersteller anzuspornen, führt der Euro-NCAP 2016 einen verpflichtenden Fußgänger-Crash ein. Notbremssysteme müssen dann Situationen meistern, in denen Passanten plötzlich auf die Straße laufen. Noch gerieten die Systeme häufig an ihre Grenzen, vor allem in der Dunkelheit. "Hersteller, die nicht nur auf Kameras setzen, sondern auch Radar oder Infrarotsensoren verbauen, sind klar im Vorteil", so Seeck. Schon seit einigen Jahren rückt der Fußgängerschutz beim Euro-NCAP verstärkt in den Fokus: Fahrzeuge, die in dieser Kategorie nicht mindestens 60 Prozent erzielen, können im Gesamtergebnis keine Bestnote erhalten - selbst wenn alle anderen Bereiche Spitzenwerte aufweisen. Aber all das hilft nur, wenn die innovative Technik auch von den Autokäufern angenommen wird.

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Quelle:
SZ vom 04.10.2014/harl
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