Süddeutsche Zeitung

Mobilität der Zukunft:Rasanter Stillstand

Wie werden wir morgen unterwegs sein? Wissenschaftler versuchen, darauf eine Antwort zu geben und entwickeln dabei sehr unterschiedliche Szenarien.

Gernot Sittner

Auf den Straßen, die in die Zukunft führen, sind Amerikaner, Niederländer und Japaner den Deutschen ein Stück voraus. In den USA nutzen zum Beispiel Unternehmen und staatliche wie kommunale Betriebe mehr und mehr das Segway PT, einen einachsigen Elektro-Motorroller, den man, auf einer Plattform zwischen den Rädern stehend, durch Verlagerung des Schwerpunkts und mit einer Lenkstange steuert.

In der Werkslogistik, bei Streifendiensten oder Stadtführungen kommt man damit maximal 35 Kilometer weit, und weil dieses Zweirad nicht schneller als 20 km/h fährt, braucht der Fahrer keinen Helm und nur den Mofa-Führerschein. Weltweit wurden seit 2001 rund 120.000 Segways verkauft. In Deutschland allerdings waren es im vergangenen Jahr noch keine tausend, unter anderem, weil viele Verkehrsbetriebe sie nicht so gerne in ihren Zügen sehen.

Mit dem Pedelec, einer Weiterentwicklung des klassischen Fahrrads, das den Fahrer, wenn er zwischendurch in die Pedale tritt, mit einer Akkuladung bei einer Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h 70 Kilometer weit bringt, liegen die Niederländer vorne. 124.000 haben sie allein im Jahr 2008 gekauft. Der Marktanteil macht dort 26 Prozent aus, hierzulande nur 2,5 Prozent. Nicht jede deutsche Kommune ist so fortschrittlich wie Augsburg, wo das Umsteigen aufs Pedelec durch öffentliche Tankstellen für Elektrozweiräder gefördert wird.

Japan schließlich bietet den Autofahrern auf allen Straßen und im ganzen Land kostenlos Informationen an: Verkehrsfluss, Verkehrsbehinderungen, Fahrzeit zwischen einzelnen Abfahrten, Fahrstreifenregelungen, Parkraumverfügbarkeit und vieles andere. Mit diesem System will es die hohen volkswirtschaftlichen Kosten von Staus und den CO2-Ausstoß reduzieren. Geschätzter gesamtwirtschaftlicher Nutzen in den ersten zehn Jahren: etwa 37 Milliarden US-Dollar. Im föderalistischen Deutschland konnte man sich bislang nicht zu einer solchen "nationalen Architektur" für die Verkehrstelematik durchringen.

Drei praktische Beispiele dafür, wie die "Zukunft der Mobilität" aussehen könnte. Das Institut für Mobilitätsforschung (ifmo), eine Forschungseinrichtung von BMW, illustriert damit seine neue Studie, die "Szenarien für das Jahr 2030" entwirft.

Diese Vision basiert auf der Annahme einiger stabiler Entwicklungen: Die Abwanderung der Bevölkerung aus vielen ländlichen Regionen und wirtschaftlich schwachen Städten in die prosperierenden Ballungsräume hält an. Die Bevölkerung schrumpft und wird immer älter, aber die Älteren werden in 20 Jahren deutlich mobiler sein als heute.

Das Thema Umwelt spielt bei Konsumentscheidungen, auch wenn es um Mobilität geht, eine immer wichtigere Rolle, und der Einsatz nicht-fossiler Energie nimmt bei allen Verkehrsträgern zu. Aber die Autoren gestehen auch: In Zeiten von Wirtschaftskrisen und ausufernden Staatsdefiziten, immer knapper werdenden Ressourcen und Klimawandel, aber auch angesichts der Dynamik aufstrebender Schwellenländer sei eine Vorhersage künftiger Entwicklungen mit deutlich höheren Unsicherheiten behaftet als bei den vorangegangenen Studien.

Deshalb entschieden sie sich auf der Basis der Einschätzungen von mehr als 80 Experten aus Wirtschaft und Wissenschaft zu drei ziemlich unterschiedlichen Szenarien.

Erstens: Gereifter Fortschritt. Die Bevölkerung ist im Jahr 2030 um fünf Millionen auf 77,2 Millionen geschrumpft und stark gealtert, der Anteil an qualifizierten Arbeitskräften aber dank hoher Bildungsinvestitionen und Verlängerung der Lebensarbeitszeit trotzdem gestiegen. Obwohl der hohe Ölpreis (200 Dollar pro Barrel) dämpfend auf das Welthandelsniveau wirkte, ist die Weltwirtschaft kräftig gewachsen; Deutschland hat davon stark profitiert. Der Pkw wird geschätzt und genutzt wie im Jahr 2010 -"weitestgehend routinebestimmt" nennen das die Experten.

Die Verkehrspolitik hat an Bedeutung gewonnen. Was an öffentlichen Mitteln fehlt, wird durch private Infrastrukturinvestitionen weitgehend ausgeglichen; die Qualität des Fernstraßennetzes hat sich allerdings verschlechtert. Die Güterverkehrsleistung ist um 20 Prozent gestiegen - wobei der auf die Straße entfallende Anteil konstant geblieben ist, die Schiene Anteile gewonnen und die Binnenschifffahrt leicht verloren hat. Die Personenverkehrsleistung ist um fünf Prozent gesunken.

Das Auto ist nach wie vor dominantes Verkehrsmittel, aber wegen hoher Kosten zeigt sich eine leichte Verschiebung hin zum öffentlichen Verkehr. Neuartige Biokraftstoffe machen ein Fünftel des Energiemix im Straßenverkehr aus; in den Städten haben sich die Elektromobilität und das Fahrrad als Verkehrsmittel etabliert. Fliegen ist deutlich teurer geworden.

Zweitens: Globale Dynamik. Hohe Zuwanderung hat die Bevölkerung bis zum Jahr 2030 nicht schrumpfen lassen. Durch tiefgreifende sozial- und bildungspolitische sowie arbeitsrechtliche Maßnahmen ist der Anteil an qualifizierten Arbeitskräften sogar gestiegen. Das Welthandelsvolumen ist dynamisch gewachsen, Deutschland konnte seine internationale Wettbewerbsfähigkeit festigen.

Bei der Wahl des Verkehrsmittels zeigen sich die Deutschen immer pragmatischer, vor allem die Jüngeren und in Städten. Neuartige Fahrzeuge gehören zum Stadtbild. Die Beimischung von Biokraftstoffen hat in Deutschland 30 Prozent erreicht. Urbanes Wohnen ist wieder gefragt. Routinebestimmtes Verkehrsverhalten wurde zum Teil aufgebrochen. Das Investitionsniveau hat sich - dank privaten Engagements - erhöht, stark belastete Bundesstraßen- und Autobahnen wurden ausgebaut. Im Schienenverkehr kommt es nicht mehr zu systembedingten Verzögerungen, was Gütertransport bis in den Nahen und Fernen Osten ermöglicht. Die Verkehrsleistung ist auf allen Verkehrsträgern stark gestiegen, im Güterverkehr um 50 Prozent.

Von der Bevölkerungskonzentration in den prosperierenden Städten und Ballungsräumen profitiert der öffentliche Verkehr, während der motorisierte Individualverkehr leicht abgenommen hat. Der Luftverkehr ist weiter gewachsen.

Drittens: Rasanter Stillstand. Globale Krisen haben die Weltwirtschaft stark geschwächt. Die Folgen des Klimawandels werden immer spürbarer. Die Bevölkerung ist um fünf Millionen geschrumpft, die Zahl der Erwerbstätigen hat abgenommen. Die soziale Kluft ist tiefer geworden, die Unterschiede zwischen Ballungsräumen und strukturschwachen Regionen noch deutlicher.

Angesichts protektionistischer Tendenzen wächst die Weltwirtschaft schwach. Der deutsche Außenhandel entwickelt sich verhalten. Ein pragmatisches, stark von den Kosten bestimmtes Verkehrsverhalten setzt sich durch. Ein Ölangebotsschock führt dazu, dass zum Teil auch langfristig vom motorisierten Individual- auf den öffentlichen Verkehr umgestiegen wird.

Die Verkehrspolitik hat massiv an Bedeutung verloren. Die Infrastrukturinvestitionen sind im Vergleich zu 2010 gesunken. Quantität und Qualität der Verkehrsinfrastruktur haben besonders in den ländlichen, strukturschwachen Regionen stark abgenommen. Nur der Straßengüterverkehr verzeichnet ein leichtes Wachstum. Die Personenverkehrsleistung hat um acht Prozent abgenommen. Besonders stark war der Rückgang der Verkehrsleistung im motorisierten Individualverkehr. Dagegen hat der Anteil des öffentlichen Verkehrs teilweise deutlich zugenommen, ebenso der Fahrradverkehr. Im Güter- wie im Personenluftverkehr ist die Verkehrsleistung gesunken.

Welchem Szenario wird die Wirklichkeit 2030 am ehesten entsprechen? Die Teilnehmer der Fachkonferenz, denen die neue Studie vorgestellt wurde, kamen zu keinem eindeutigen Ergebnis. Die Szenarien Gereifter Fortschritt und Rasanter Stillstand bekamen nahezu gleich viele Stimmen; etwas weniger Experten entschieden sich für Globale Dynamik.

Die vollständige Studie kann heruntergeladen werden unter www-ifmo.de.

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Quelle:
SZ vom 28.06.2010/gf
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