Süddeutsche Zeitung

Mittelklasselimousine im Fahrbericht:In der neue E-Klasse steckt Hightech, die kein Vertrauen schafft

Der Mercedes ist ebenso agil wie komfortabel und lässt sich einfach bedienen. Außerdem kann er automatisch lenken - und da beginnt das Problem.

Test von Georg Kacher

Selber lenken, bremsen, beschleunigen, das könnte bald Vergangenheit sein. Wie die Zukunft des Automobilisten aussieht, haben wir auf einer Dreitagestour quer durch Deutschland erlebt. Am Steuer der neuen E-Klasse, die auf Wunsch ein ausgeprägtes Eigenleben an den Tag legt, das uns die Vision des autonomen Fahrens einen großen Schritt näher bringt. Gleichzeitig geht es um die Antwort auf die Frage, ob der meist aufpreispflichtige Innovationsschub genug Freiraum lässt für Emotionen - in Form von Fahrspaß und der Genugtuung, die Maschine im Griff zu haben, statt umgekehrt. Welche Vorteile bietet die neue Technik im Alltagseinsatz, wie gut ist die E-Klasse gewappnet für den Kampf gegen Audi A 6 und BMW Fünfer, wie langlebig ist das an der C-Klasse ausgerichtete Design?

Unser Testwagen hat wenig gemein mit der Spezifikation eines Fuhrparkleiters, der jeden Euro zweimal umdrehen muss. S-EK 9012 ist bis unter das Panoramadach vollgepackt mit Hightech und Highmech. Das Avantgarde-Make-up wirkt trendiger als das Exclusive-Styling mit dem Stern auf der Haube, aber nicht so aggressiv wie das AMG-Paket. Obwohl Mercedes mit der Baureihe W 213 ein völlig neues Modell auf die Räder gestellt hat, zeigt die Neuheit auf unserer Tour kaum öffentliche Wirkung - kein Frage-und-Antwort-Spiel an der Tankstelle, keine Daumen-hoch-Kommentare. In der Tat muss man zweimal hinschauen, um E von C unterscheiden zu können. Im Vergleich zum Vorgänger hat die fünfte E-Generation zwar in Länge und Radstand leicht zugelegt, doch an den Platzverhältnissen im Innenraum ändert sich leider nichts.

Die goldene Mitte zwischen Eifer und Entspannung

Quer durch Deutschland, das ist abwechslungsreicher Autoalltag, gespickt mit Hindernissen. Wenn uns die Schilderbrücken nicht einbremsen, dann besorgt das der dichte Verkehr. Wenn sich eine freie, trockene und gerade Bundesstraße auftut, dann ist die nächste Radarfalle garantiert nicht weit. Wenn ein städtisches Ereignis Besucher anlockt, dann drohen garantiert Parkplatznot und Durchfahrtbeschränkungen. Sobald es regnet, sich eine Baustelle breitmacht oder der Berufsverkehr Staus produziert, ist das Chaos komplett. Also nichts wie runter von der A 5, Heidelberg umfahren, auf Kreisstraßen quer durch die Pampa. Mit 245 PS und 370 Nm ist der E 300, der erst im Herbst auf den Markt kommt, ordentlich motorisiert. Die Eckdaten: 0-100 km/h in 6,3 Sekunden, 250 km/h Spitze, Normverbrauch 6,6 Liter, Preis etwas mehr als 50 000 Euro.

Der aufgeladene 2,0-Liter-Vierzylinder spielt sich bei höheren Drehzahlen gerne akustisch in den Vordergrund, gibt sich im großen Gang dafür als Leisetreter. In Sport plus schaltet die Neungangautomatik zu früh zurück und zu spät hoch. Dafür treffen Motor und Getriebe im Sportmodus die goldene Mitte zwischen Eifer und Entspannung. Kick-down im vierten oder fünften Gang zieht die Drehzahl linear und mit Nachdruck hoch, ehe bei 6250 Touren die nächste Fahrstufe übernimmt. Neun Gänge klingt nach zu viel des Guten, doch die eng gestufte 9G-Tronic lässt uns fast vergessen, dass Mercedes diesem Vierzylinder eigentlich keinen Sixpack antrainiert hat. Die Schaltpaddel animieren auch deshalb zum spontanen Eingreifen, weil der Automat in das vorgewählte Programm zurückfindet.

Bis auf Sportbremse und Aeropaket ist unsere hyazinthrote Schönheit mit allen erdenklichen Extras ausgestattet. Der Drive Pilot hält den korrekten Abstand zu vorausfahrenden Autos und folgt ihnen bis 210 km/h. Bis 130 km/h findet das System sogar ohne Fahrbahnmarkierungen seinen Weg. Der Bremsassistent kann einen Bremsvorgang auslösen, der Ausweichassistent hilft durch kleine Lenkeingriffe, der Spurwechselassistent führt selbsttätig Überholvorgänge durch. Braucht man das? Will man das? Diese Diskussion dürfte sich am (abschaltbaren) Lenk-Pilot entzünden, der mit zeitlich begrenzten, von Tempo und Kurvenradius mitbestimmten Lenkimpulsen die Tür zum teilautonomen Fahren weit aufstößt.

Staufolgefahrt beherrscht der E 300 in Perfektion, inklusive Start-Stopp bei längeren Pausen. An die automatischen Lenkeingriffe bei höherem Tempo muss man sich allerdings erst gewöhnen. Wer die Hände zu lange in den Schoß legt, wird optisch und akustisch gewarnt und dann sanft eingebremst. Wenn der Radius eng wird und der Fahrer trotzdem nur zuschaut, versuchen Kameras und Sensoren durch einen kräftigen Lenk- und Bremsimpuls, den Wagen wieder auf Kurs zu ziehen. Klingt logisch, ist aber schon durch damit verbundene Schrecksekunde eher keine Vertrauen bildende Maßnahme.

Zurück bleibt ein mulmiges Gefühl, selbst wenn das autonome Überholen nach Setzen des Blinkers ebenso problemlos funktioniert wie das sichere Durchfahren einer engen Autobahnbaustelle. Trotzdem stößt das System immer wieder an seine Grenzen - zum Beispiel, wenn Einscherer die Lücke zum Vordermann gnadenlos zumachen, wenn sich der Tempolimit-Pilot an jedes Verkehrsschild hält, wenn der Lenkassistent plötzlich spurkorrigierend eingreift. Zugewinn an Sicherheit oder beginnende Bevormundung?

Hoher Fahrkomfort, gute Fahrdynamik

Auf der A 81 Richtung Würzburg machen die Helferlein Mittagspause. Nur ABS und ESP sind noch aktiv, und die neue Mehrkammer-Luftfederung. Sie senkt den Wagen ab oder hebt ihn an, hält das Niveau konstant und ist über Dynamic Select in vier Stufen einstellbar. Trotz 18-Zoll-Winterreifen sind die satte Grundgeschmeidigkeit und der Federungskomfort der S-Klasse näher als der C-Klasse. Die Skala der Abstimmungen reicht von Comfort (gut gepolstert, aber nie schwammig) bis Sport plus (straff, aber nicht spröde). Die Lenkung ist weniger leichtgängig als im S 500 und weniger schwergängig als im C 63 AMG. Auf den kurvigen Landstraßen durch den Steigerwald und die Fränkische Schweiz bleiben die Assistenzsysteme außen vor. Hier sammelt der Mercedes Pluspunkte für das besonnene Einlenkverhalten, das progressive Rückstellmoment und sauber definierten Fahrbahnkontakt.

Die Oberpfalz empfängt uns mit Dauerregen. Auf dem rutschigen Geläuf kann der E 300 zeigen, was in ihm steckt. Zum Beispiel eine ordentliche Portion Grip, eine gütliche Einigung mit dem Grenzbereich und eine bemerkenswerte Trittsicherheit. Die neue E-Klasse will auf Zug gefahren werden, mit genug Drehmomentreserve für schnelle Zwischenspurts und mit genug Drehzahlreserve zum nächsten Hochschaltkick. Lastwechsel stupsen die Nase in Richtung Scheitelpunkt, animieren zu früherem Herausbeschleunigen und zum Aufmachen der Lenkung. Nein, auch dieser Mercedes ist kein Auto, das zum Räubern animiert. Aber wenn es sein muss, kann er auch das.

Das neue Bedienkonzept überzeugt

Der Innenraum wirkt zugleich neu und vertraut. Ziemlich clever sind die Bedientasten in den Lenkradspeichen. Das linke Touchpad kümmert sich um relevante Fahrzeugfunktionen, das rechte steuert das Infotainment - intuitiv mit den Daumen. Die Eingabe wird per Knopfdruck bestätigt. Es gibt zwar auch Direktwahl- und Favoritentasten, den Comand-Controller und die verbesserte Sprachbedienung, aber eigentlich muss man ab sofort die Hände nicht mehr vom Lenkrad nehmen. Ebenfalls neu: der farbige Breitband-Bildschirm, die kleinere und deutlich günstigere Burmester Musikanlage, das große Parkpaket mit Einpark-Automatik per App (funktioniert leider noch nicht über das iPhone) und die insgesamt 168 LED des adaptiven Lichtsystems, das die Nacht zum Tag macht.

Wir erreichen die tschechische Grenze mit der Patina von drei harten Arbeitstagen. Die neue E-Klasse ist ein feines Auto, aber sie spielt weiter in derselben Liga wie der Wettbewerb - trotz der bemerkenswerten Innovations-Offensive. Während ACC und Staupilot dickes Lob verdienen, führen die Lenkeingriffe in eine Grauzone, wo Auto und Fahrer unterschiedliche Vorstellungen haben von dem, was als nächstes zu tun ist. Der technische Fortschritt wird diese Lücke mit der gebotenen Rasanz schließen, doch bis es soweit ist, greifen wir lieber selbst in die Speichen. Wer weiß schon, wann uns Big Brother die Zügel aus der Hand nimmt . . .

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Quelle:
SZ vom 12.03.2016/harl
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