Mit dem Auto in den Urlaub:Entfesselt nach Süden

Stau auf der Autobahn

Sommer, Sonne, Stau

(Foto: dpa)

Jedes Jahr im Sommer wälzt sich eine alemannische Urlauberlawine über die Autobahnen gen Süden. Von Gefangenen auf dem Rücksitz, Zuständen fatalistischer Umnachtung und menschlichen Paketen. Das Protokoll einer automobilen Urlaubsfahrt.

Von Gerhard Fitzthum

Mir kann keiner helfen! Seit Jahren hatte ich über die armen Würstchen gespottet, die sich dies alljährlich antun - und jetzt bin ich selber so blöde: Nach Süden! Mit dem Auto! In der Hauptreisezeit! Ich sehe mich schon im alemannischen Südstau stehen, verschwitzt, hilflos, am Ende, aber noch lange nicht da. Doch was soll ich tun, zusammen mit meinem Töchterchen habe ich eine Paddelwoche an der Soca gebucht. Die Soca fließt durch den alpinen Westen Sloweniens. Ohne Auto ist da nichts zu machen.

Am Vorabend der Abreise kommt, was kommen musste: "Achtung!", tönt es aus dem Radio, "auf den gesamten Fernstraßen nach Süden ist wegen Ferienbeginn in mehreren Bundesländern am gesamten Wochenende mit Staus und Behinderungen zu rechnen. Verkehrsexperten empfehlen, die Urlaubsreise erst am Wochenanfang anzutreten." Sehr witzig! Unser Kajak-Kurs beginnt Sonntag morgen und endet bereits am Freitag.

Antizyklisch - wie alle anderen

Um das Schlimmste zu vermeiden starten wir antizyklisch, mittags also. Die anderen scheinen jedoch auf die gleiche Idee gekommen zu sein, denn es wimmelt nur so von voll bepackten Autos. Die meisten haben Jet-Bags auf dem Dach, oder Fahrräder, oder beides. Den Vogel schießt ein Polofahrer mit Dortmunder Kennzeichen ab. Er hat vier Mountainbikes sandwichartig auf dem Heck befestigt - um die Heckklappe in diesem Zustand zu öffnen dürfte man einen Kran benötigen. Andere haben es da leichter. Sie sitzen in einem jener Freizeitlastwagen, mit denen immer mehr Zeitgenossen ihre Urlaubsbereitschaft ganzjährig unter Beweis stellen - 2,8-Tonner von VW, Mercedes oder Fiat, die mit Surfbrettern, Mountainbikes und sogar Geländemotorrädern behängt sind. Schwerfälliger sind nur noch die Wohnwagengespanne mit gelben Nummernschildern, die den rechten Fahrstreifen verstopfen.

Die erste Baustelle. Ich wechsle auf die linke Spur. Die wird nun auf die Gegenfahrbahn geführt, wo man das Vergnügen hat, im Abstand von 50 Zentimetern an Urlaubern mit entgegengesetzter Zielrichtung vorbeizurasen. Ein kleiner Fahrfehler und zwei Autos verwandeln sich in handliche Blechpakete, aus denen das Blut heraustropft. Eine Definition von Günther Anders huscht durch mein gestresstes Hirn. Der Technikkritiker bezeichnete "Mut" einfach als "Phantasiemangel": Wer den Gefahren mutig ins Auge sieht, ist demnach nicht etwa ein Held, ihm fehlt einfach nur das Vorstellungsvermögen dafür, was ihm wirklich passieren kann. Die nächsten Baustellen kosten mich viel Zeit: Um bloß nicht mehr auf die Gegenfahrbahn geleitet zu werden, reihe ich mich einmal sogar versehentlich in die Spur der Ausfahrt ein.

Am Irschenberg tritt dann das logisch Unmögliche ein: Wir stehen im Stau. Logisch unmöglich ist das deshalb, weil sich schlechterdings kein Grund ausmachen lässt, warum das erste Fahrzeug zum Stillstand kommt und damit den Stau verursacht. Wäre vor ihm schon ein anderes Auto gestanden, so wäre es ja nicht das erste Auto und man könnte fragen, warum denn jenes stehengeblieben ist - wo alle vor ihm doch fahren.

Ich versuche das meiner Kleinen auf dem Beifahrersitz zu erklären, doch die starrt mich nur entgeistert an. Nicht etwa, weil sie nicht begreifen würde, nein, viel banaler, denn natürlich hängen schwarze Kabel aus ihren Ohren, die mit dem iPod auf ihrem Schoß verbunden sind. Keine belebende Diskussion also, mir bleibt nichts übrig, als die anderen Urlaubsanwärter zu studieren, die für einen Moment neben mir stehen oder im Zeitlupentempo vorbeiziehen. Meistens sitzt Er entnervt hinter dem Steuer, Sie mit dem "Ich-habs-Dir-doch-gleich-gesagt"-Blick daneben. Die Kinder hocken wie Gefangene auf dem Rücksitz, eingeklemmt zwischen Kühlbox und Klappstuhl. Zuerst denkt man, sie sind mit Handschellen an den Rückseiten der Vordersitze befestigt, aber es sind Gameboys, die sie sich so starr vors Gesicht halten.

Eher zufällig fällt mein Blick nun auf die blaue Tafel mit den Entfernungsangaben: "Salzburg 78 km". Die erste erschütternde Hochrechnung: Acht Stunden noch, wenn es so weiter geht wie bisher. Im Verkehrsfunk derweil die immer gleichen Schauerlichkeiten aus der allgemeinen deutschen Autobahnwelt: "Stau", "stockender" oder "zäher Verkehr", "Geisterfahrer", "Ausfall der Notrufsäulen", "Gepäckstücke", "Kinder" oder "Tiere auf der Fahrbahn". Am überflüssigsten finde ich die Meldung, dass "alle Parkplätze an den stadtnahen Badeseen besetzt" sind.

Visionen vom verlorenen Glück

Das Erinnertwerden an die faszinierende Alternative zum Wegfahren zeigt Wirkung. Erste Visionen vom verlorenen Glück des Zuhausebleibens stellen sich ein: Auf der schattigen Veranda, ein kühles Bier, selbst die grillsüchtigen Nachbarn würde man heute ertragen. Zu spät! Wir sind bereits auf Höhe des Achentals und haben es auf eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 36 km/h gebracht, wie ich zum Zeitvertreib ausgerechnet habe. Das ist angesichts der apokalyptischen Stauwarnung gar nicht schlecht. Oder umgekehrt: Die Stauwarnungen haben uns vor Schlimmeren bewahrt.

Zur Linken taucht nun die Fata Morgana des Chiemsees auf. Wie in einer Spielzeuglandschaft flanieren Menschen hier durch schattige Alleen, auf der ruhigen Wasserfläche spiegelt sich die Nachmittagssonne. Zu allem Überfluss steht am Ufer ein schönes Gasthaus mit Terrasse und Sonnenschirmen. Man könnte einkehren, den Sommer genießen, hinaus schauen zu den Segelbooten, die friedlich übers Wasser gleiten.

Der Blick auf den Beifahrersitz wirft mich in die Realität zurück: Carla liegt dort seit längerem regungslos mit geschlossenen Augen und kleinen Schweißperlen auf der Stirn. Träumt sie oder ist sie in Trance? Was passiert, wenn ich sie in diesem Zustand anspreche? Erst als ich sehe, dass der kleine Finger einen schwachen Rhythmus auf die Kühlbox klopft, bin ich beruhigt. Kurz nach Salzburg geht es endlich wieder richtig vorwärts, die Tachonadel zeigt 140 km/h. Zu Hause hatte ich mir natürlich geschworen, keinesfalls schneller als 120 zu fahren, ich bin schließlich nicht lebensmüde. Einmal unterwegs wird man aber immer mutiger: Lieber Kopf und Kragen riskieren, als diesem Stumpfsinn auch nur eine Minute länger ausgesetzt sein!

Von der Landschaft habe ich schon lange nichts mehr gesehen, was ich allerdings auch nicht erwartet hatte. Zu den Wahrnehmungsverlusten beim modernen Reisen hat schon John Ruskin alles gesagt. Der englische Architekt und Kulturkritiker des frühen 19. Jahrhunderts meinte allerdings die Eisenbahn. In ihr werde man wie ein Projektil durch die Landschaft geschossen, schimpfte er - ein Topos der damaligen Zivilisationskritik. Was würde er wohl sagen, wenn er jetzt neben mir säße? Nun, vermutlich genau das, was er seinerzeit auch sagte: Dass wir keine Reisenden mehr sind, sondern menschliche Pakete, die sich selbst an ihren Bestimmungsort schicken, wo sie dann genauso ankommen, wie sie den Abreiseort verlassen haben - ohne Erfahrunsgewinn und bleibende Erinnerung.

Vom verlorenen Glück des Zuhausebleibens

Das Erinnerungsvermögen hat in der Tat gelitten. Den letzten Unfall hatte ich schon völlig vergessen, als wir wieder einmal in den Kleinstau geraten, den man gemeinhin Gafferschlange nennt. Diese Abqualifizierung des Interesses an verunfallten Mitmenschen gehört zu den Ungerechtigkeiten der heutigen moralischen Korrektheit. Es ist schließlich einer von uns, der da unter die Räder gekommen ist! Oftmals kennt man die betroffenen Personen sogar, wie die blonde Mittvierzigerin mit postmodernem Igelkopf und Spiegelbrille, die uns vor gar nicht langer Zeit mit ihrem schicken Cabrio überholt hat. Zitternd steht sie jetzt vor ihrem schwarzen Schrotthaufen. Erstaunlich, wie sie da noch heil heraus gekommen ist!

Die ersten Unfälle hatten uns noch aufgerüttelt, den Adrenalinspiegel erhöht, Ansätze von Kommunikation zwischen mir und meinem Nachwuchs erzeugt. Doch das ist lange her. Obwohl ihre Augen auf die unschöne Szene gerichtet sind, bleibt Carla diesmal einsilbig: "Durst", stöhnt sie und grapscht nach der Colaflasche, die ich ihr entgegenstrecke. Auch ich schließe nicht mehr vom Anblick einer Karambolage auf das eigene Gefährdetsein. Eingetreten ist ein Zustand fatalistischer Umnachtung, der nur deshalb nicht in offenen Wahnsinn umschlägt, weil man noch ganz genau weiß, was man will: Ankommen und Aussteigen.

Inzwischen steuern wir auf den Tauerntunnel zu, in dem vor einigen Jahren zwölf Autofahrer bei einem Tunnelfeuer ums Leben kamen. Obwohl das Loch noch ein ganzes Stück entfernt ist und keine Anzeichen eines Staus zu entdecken sind, werden unsere Vorderleute immer langsamer. Allem Anschein nach gehören sie zu jener erschreckend hohen Zahl deutscher Autofahrer, die vor Tunnels Angst haben, wie der ADAC herausfand. Dabei ist seinem Verkehrspsychologen zufolge alles so einfach: Wenn einem im Tunnel die Angst überfalle, solle man einfach "ruhig bleiben und sich weiter an die Verkehrsregeln halten," hatte ich irgendwann mal in der Clubzeitschrift gelesen. Ah ja.

1200 Grad in fünf Minuten

Es wird dunkel und noch langweiliger, als es ohnehin schon war. Zeit, auch die anderen Katastrophen der jüngeren Tunnelgeschichte Revue passieren zu lassen, das Inferno im Gotthard etwa, oder das im Mont Blanc-Tunnel. Bei der späteren Nachstellung des Unglücks fanden Experten heraus, dass es bei einem Großbrand im Tunnel innerhalb von nur fünf Minuten 1200 Grad warm wird.

Ich spüre, wie mir der Schweiß von der Stirn tropft und ertappe mich dabei, die Diagnose des ADAC-Psychologen zu bestätigen: Wer Angst bekommt, hatte er versichert, tritt auf das Gaspedal und versucht, das Tunnelende schnellstmöglich zu erreihen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Carla besorgt zu mir herüberschaut. "Andere machen viel gefährlichere Dinge", erkläre ich ihr unsere plötzliche Eile - "im Moment der Panik kehren sie mitten im Tunnel um und fahren zurück!" Dass ich beim Erblicken der ersten Rauchwolke dasselbe tun würde, verschweige ich natürlich.

Zwischen dem Tunnelausgang und Villach ereignet sich nichts Besonderes. Obwohl meine Tachonadel wieder 140 Km/h zeigt, sind wir die Langsamsten geworden, die anderen sind offenbar schon in Endspurtstimmung. Als wir die italienische Grenze passiert haben und in Richtung Slowenien abbiegen, sind sie plötzlich alle verschwunden und wir ganz alleine auf dem Asphalt. Ein Gefühl des Verlassenseins stellt sich ein, ein diffuses Unbehagen. Haben wir irgendetwas falsch gemacht, oder hat es wieder mal eine Erdbebenwarnung gegeben, von der wir nichts wissen?

Das Ende des Grauens

Nichts dergleichen, eine Stunde später passieren wir die Schranke des Campingplatzes, der als Treffpunkt verabredet ist. "Da sind die anderen", ruft Carla freudig, und auch ich spüre, wie sich die Gesichtsmuskeln zu einem Lächeln entspannen. Nach einer siebenstündigen Auto-Odyssee kann man offenbar gar nicht anders, als seinen Mitmenschen mit breitem Grinsen entgegenzutreten. Willkommensfreude? Kaum! Es ist nur das Ende des Grauens, das die Stimmung so schlagartig aufhellt.

So viel unerwartetes Glück macht müde. Erschöpft lasse mich auf die Isomatte fallen. Als Letztes nehme ich zur Kenntnis, dass mein Töchterchen ihren Chauffeur bereits vergessen hat und mit den anderen Kids zum Fluss hinunterläuft. Als ich nach einer längeren Bewusstlosigkeit erwache, habe ich das gemeinsame Abendessen verpasst. Ich schaue in den noch hellen Himmel und spüre außer Kopfschmerzen auch einen kleinen Anflug von Urlaubsfreude. "So schlimm war es ja auch wieder nicht", sage ich mir. Ich streiche den Tag einfach aus dem Kalender und bis Wochenmitte werde ich mich wohl einigermaßen erholt haben. Samstag fahren wir dann zurück.

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