Marathon-Rennrad im Test:Der VW Golf unter den Rennrädern

Stevens Ventoux Disc

Als Komplettrad kostet das Stevens Ventoux Disc mindestens 2799 Euro.

(Foto: Stevens)

Das Stevens Ventoux Disc beweist auf einer 800-Kilometer-Tour, welch feines Allround-Rennrad es ist. Es mag sogar ruppigen Untergrund - im Gegensatz zu Regen.

Von Sebastian Herrmann

In der Dunkelheit der Nacht verwandelt sich die Fahrt in einen fiebrigen Wachtraum. Nach mehr als 15 Stunden im Sattel lässt der Gegenwind endlich ein wenig nach, nur der Regen macht unverdrossen weiter. Wo genau die Rennräder entlangrollen, löst sich im Nebel der Erschöpfung und der Dunkelheit auf. Das GPS am Lenker gibt den Weg vor, aber es fehlt die Vorstellung davon, wo genau auf einer Landkarte diese Route durch den Osten Frankreichs entlang führt. Die Gedanken kreisen nur darum, im Hotel anzukommen und die letzten Kilometer der ersten Etappe auf dieser Gewalttour von Freiburg nach Nyons nahe des Mont Ventoux, dem heiligen Berg des Radsports, zu überstehen.

Für Langstrecken wie diese (und auch für alle weniger extremen, aber ausgedehnten Ausfahrten) hat die Fahrradindustrie vor gut zehn Jahren die Kategorie der sogenannten Marathon- oder Endurance-Rennräder erfunden. Diese Kategorie Rad zeichnet sich dadurch aus, dass sie eine etwas bequemere Sitzposition zulässt: Der Radler hockt etwas aufrechter im Sattel als auf Rennrädern, die für den Wettkampfeinsatz optimiert sind. Die Rahmen sind zudem so ausgelegt, dass sie Erschütterungen nicht ganz so direkt in den Leib der Radler weiterleiten.

Fast alle Hersteller haben Marathonrennräder in ihrer Modellpalette und verkaufen sie so erfolgreich, dass sich diese Rad-Kategorie auch als VW-Golf-Klasse des Rennradwesen bezeichnen ließe. Wer mit diesem Sport beginnt, entscheidet sich meistens für ein Marathon-Rennrad.

Der Hamburger Hersteller Stevens interpretiert das Konzept mit seinem Modell Ventoux - und auf der Langstreckentour von Freiburg in die Provence rollen mehrere dieser Räder aus verschiedenen Baujahren im Rudel der etwa 50 Teilnehmer mit. Der Name passt auch gut, weil das Ziel eben der Mont Ventoux ist. Das aktuelle Stevens Ventoux Disc wird als Baukastensystem angeboten oder als Custom-Road-Bike, das klingt natürlich schnittiger. Beides bedeutet: Die Kunden wählen sich die Anbauteile je nach Wunsch und Geldbeutel aus einer Palette Möglichkeiten aus, von der Schaltgruppe über die Laufräder bis hin zur Lenker-Breite oder der Marke der Flaschenkäfige.

Bereit für ruppigen Untergrund

Die Stevens-Auslegung des Marathon-Konzepts fällt im Vergleich des Segments sportlich aus. Die Sitzposition ist weniger aufrecht als auf manchen Modellen der Konkurrenz. Die Geometrie des Rades ist nah an jener der für Tempo und Wettkampf ausgelegten Räder des gleichen Herstellers. Das Ventoux wirkt dadurch wie ein Allround-Rennrad, das neben langen Touren, die Sitzkomfort verlangen, auch auf Tempo-Touren gut einsetzbar ist. Das Modell rollt ebenso stabil wie ruhig und in Kurven ausreichend agil.

Das Sitzrohr des Ventoux verjüngt sich nach oben in Richtung Sattel. Das - so verspricht der Hersteller - helfe in Kombination mit einer schlanken Sattelstütze, Erschütterungen abzufedern. Kurze Passagen über Schotterwege fühlen sich tatsächlich einigermaßen sicher an, sonst bricht auf Untergrund wie diesem gerne Angst um die Unversehrtheit des so filigranen Rennradmaterials aus. Sicher dämpfen auch die 25 Millimeter breiten Reifen, die auf die Mavic-Ksyrium-Elite-UST-Laufräder aufgezogen sind. Der Rahmen lässt es zu, bis zu 28 Millimeter breite Reifen zu montieren, die bei vielen anderen Herstellern bereits zum Standard für Marathonräder geworden sind und Rennräder noch besser für ruppigen Untergrund vorbereiten.

Wenig Platz für Regenschutz

Schon mit 25-Millimeter-Reifen ist der Rahmen des Ventoux-Disc jedoch recht eng - was vor allem dann relevant ist, wenn für Langstreckenfahrten bei Regen Schutzbleche montiert werden. Die Dinger sehen zwar an jedem Rad mies aus, zögern aber den Zeitpunkt ein wenig hinaus, von dem an man bei Regen als vollkommen durchnässter Tropf im Sattel hockt und sich selbst bemitleidet. Zwischen Gabel und Reifen sowie Sattelstange und Hinterrad bleiben jeweils nur wenige Millimeter Raum, zu wenig, um dort Schutzbleche durchzuführen. Also, hilft ja nichts, für die im Regen abgesoffene Langstreckensause zum Mont Ventoux wird der Spritzschutz eben gekürzt und abgesägt, um die Rest-Schutzbleche am Rahmen anzubringen - sieht schlimm aus, hilft aber ein wenig. (Auch dem Hintermann, denn bei Regen ohne Schutzbleche im Windschatten zu fahren, ist nur etwas für Fans kalter Schlammduschen).

Wie der Name des Modells nahe legt, ist das Ventoux Disc mit Scheibenbremsen ausgestattet, wie übrigens die meisten Marathon-Modelle auf dem Markt. Viele Hersteller bieten, anders als Stevens, diese Räder sogar nur noch mit Scheibenbremsen an. Wahrscheinlich sind Kunden leichter von dem Bremssystem zu überzeugen, wenn nicht ein möglichst geringes Gewicht zum Hauptkriterium für ein Rad erhoben wird, sondern die Verkaufsargumente an die Vernunft appellieren (Komfort, gute Sitzposition). Die Bremswirkung der Shimano-Ultegra-Scheiben am getesteten Rad ist sehr gut, vor allem bei dauernder Nässe, wenn auch von den üblichen, gelegentlichen Jaul-Geräuschen begleitet.

Die Skepsis darüber, ob ein Langstreckenrad wirklich mit einer elektronischen Schaltung ausgestattet werden sollte, löst sich weitgehend auf. Der Akku der Shimano Ultegra Di2 verfügt nach den knapp 800 Kilometern zum Mont Ventoux noch immer über ausreichend Saft, um noch ein ganzes Stück weiter zu radeln. Das Ladegerät war trotzdem im Gepäck, zur Sicherheit. Und um den Spott der Mitfahrer zu vermeiden, wenn die Schaltung nicht mehr funktioniert, weil der Akku leer ist.

Als Gesamtpaket ist das Stevens Ventoux Disc ein feines Allround-Rennrad und sportlicher Vertreter der Rennrad-Golf-Klasse. Mit 7,2 Kilo in der Top-Ausstattungsvariante ist es für diese Rennradkategorie vergleichsweise leicht. Und niemand muss mit diesem Rad zwingend stundenlang bei Regen und Gegenwind durch die französische Provinz rollen. Auf einer Wochenendausfahrt, einer etwas längeren Runde, einem Radmarathon oder einem sportlichen Ausflug an den Badesee wird dieses Rennrad ebenfalls artgerecht gehalten.

Stevens Ventoux Disc: Rahmenkit 1599 Euro; Komplettrad ab 2799 Euro. Das Test-Fahrrad wurde vom Hersteller zur Verfügung gestellt.

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