Kolumne „Hin & weg“:Sonnendeck statt Trump

Lesezeit: 2 Min.

Ein Drink an Bord des Kreuzfahrtschiffes – dazu hat mehr als genug Zeit auf der Reise, die vier Jahre dauern soll. (Foto: Villa Vie Odyssey)

Eine Reederei bietet eine vierjährige Kreuzfahrt an, auf der Passagiere die Präsidentschaft Trumps aussitzen können. Aber funktioniert das Prinzip Weltflucht im Urlaub tatsächlich?

Glosse von Jochen Temsch

Es gibt nur wenige Orte, die dazu geeignet sind, nichts mehr von der Welt mitzubekommen. Wobei es – nichts wie weg! – weniger um eine passive Abwendung geht als um eine aktive Bewegung, also ein Reisen fort von den schrecklichen Ereignissen. Weltflucht gehört zu den klassischen Versprechen des Tourismus.

Anderswo soll das Leben besser sein, dieser Gedanke motiviert Medienberichten zufolge aktuell auch viele Amerikaner. Demnach stiegen die Google-Suchanfragen zum Thema Auswanderung in den USA an den Tagen nach Donald Trumps Wahlsieg angeblich um mehr als 1500 Prozent.

Die amerikanische Start-up-Reederei Villa Vie Residences hat sofort reagiert und bietet frustrierten Landsleuten an, die Präsidentschaft Trumps auf dem Sonnendeck eines Schiffes auszusitzen – auf einer bis zu vier Jahre dauernden Kreuzfahrt. Im Angebot sind vielsagende Pakete: „Skip Forward“ (Vorspulen) beispielsweise, „Everywhere but Home“ (mit garantiert keinem Landgang in den USA) und eine zwölfmonatige Auszeit „Escape from Reality“. Für eine Einzelkabine muss man mit etwa 256 000 Dollar aufwärts rechnen.

Urlaub ist Auswanderung auf Zeit. Aber alles, was die Urlaubsindustrie produziert, ist von Natur aus zu eng mit der Realität verwoben, als dass Kunden diese bei einem Aufenthalt tatsächlich ausblenden könnten. Sei es ein Resort in der Südsee, das sich „Hideaway“ nennt und sich sein Verstecktsein vorm Alltag mit irdischer Währung bezahlen lässt. Oder ein Fünfsternehotel in den Alpen, das mit allen möglichen Variationen von „Abschalten“ wirbt, aber schon allein wegen der vielen tollen Gästefotos auf Instagram flächendeckend WLAN bis in die keltische Erdsauna hinein bereitstellt. Selbst in Regionen, die mit schierer existenzieller Leere werben, ist es schwer, sich von den Weltereignissen nicht anfüllen zu lassen. So erweist sich etwa der Marketing-Slogan von Osttirol, „Kommen Sie zu uns, wir haben nichts“, auch nur als branchentypische Mogelei – wenn auch als Unter-, statt der sonst üblichen Übertreibung. Wie könnte das auf einem Kreuzfahrtschiff anders sein?

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Gut, es gibt Berichte von mutigen Individualtouristen, die etwa in Boliviens Salzwüste auf 5000 Meter hohe Vulkane gestiegen oder auf dem Amazonas zwei Wochen lang mit Yanomami Kanu gefahren sind und 9/11 verpasst haben. Aber kaum geraten sie auch nur an den Saum der Reichweite einer Funkzelle, reiben sie sich kurz die Augen und sind im Bilde. Und seien wir mal ehrlich: Nicht einmal der Weltraumtourismus katapultiert den Menschen weit genug weg von der Welt. Die Redewendung „hinterm Mond leben“ kann heute nicht mehr bedeuten, nicht mitzukriegen, wer der nächste Präsident der USA wird. Denn erstens gehört die Mondrakete dem Trump-Unterstützer Elon Musk, zweitens fahren seine elektrischen Cybertrucks doch auch schon dort oben herum, oder etwa nicht?

Die wahre Abkehr von der Welt ist eine innere, die nichts mit zurückgelegten Kilometern zu tun hat. Auch wenn es Orte geben mag, die diese Haltung zumindest begünstigen. Die Kanaren-Insel La Palma muss man wohl dazu zählen. Vor wenigen Tagen, fast eine Woche nach der Wahl von Donald Trump, konnte man dort noch den wahrscheinlich letzten ahnungslosen Menschen auf dem Planeten treffen. Einen Wanderführer, der, als das Gespräch mit Gästen darauf kam, meinte: „Was? DER kommt wieder an die Macht?“

Fluchtreflex! Doch bevor man jetzt sein Haus verkauft, um einzuchecken – Vorsicht! Der Anti-Trump-Dampfer sollte schon im Frühjahr zu einer mehrjährigen Reise auslaufen – und lag im Herbst immer noch vor Anker. Er heißt übrigens Odyssey, Irrfahrt.

Der Autor findet Kreuzfahrten grundsätzlich eher surreal. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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