Kolumne:Selbsterkenntnis hilft beim täglichen Überleben

Wer einmal Auto fahrende Menschen an Orten beobachtet, die ein Mindestmaß an Geschick verlangen, kann durchaus den Eindruck gewinnen, dass ein Tempolimit nahe Null für viele ein Segen sein könnte.

Von Jörg Reichle

Der Streit darüber, welches Tempo dem körperlichen, geistigen und psychischen Vermögen dem Menschen an sich wohl angemessen sei, um von A nach B zu kommen, ist vermutlich schon so alt, wie der Mensch selbst. Und spätestens seit er zur Steigerung seiner Reichweite nicht mehr ausschließlich auf die Kraft seiner zwei Beine vertraute, melden sich Skeptiker zu Wort, die es für erwiesen halten, dass schon der gemeine Fußgänger im Grunde mit der sinnstiftenden Fähigkeit überfordert sei, die in rasender Abfolge auf ihn einstürmenden Sinneseindrücke halbwegs zu verarbeiten. Dies mag erst mal überzogen klingen. Legen nicht Tag für Tag zig Millionen von Menschen zig Millionen von Kilometern zurück, ohne Schaden an Leib und Seele zu nehmen? Andererseits: Ist das wirklich ein Beweis dafür, dass es uns gelingt, mit uns selber Schritt zu halten? Wohl kaum. So profitieren Bus, Bahn und Flugzeug von dem Umstand, dass sie von den allermeisten Insassen nur benutzt und nicht etwa gesteuert werden. Das senkt das Risiko für alle Beteiligten um ein Vielfaches. Mehr Beweiskraft im Lehrstück "Mensch und Geschwindigkeit" besitzt da das sogenannte Individualverkehrsmittel, für manche ja wider alle Erfahrung immer noch eher Verheißung denn Bedrohung. Wer einmal Auto fahrende Menschen an Orten beobachtet, die ein Mindestmaß an Geschick verlangen, etwa auf Supermarkt-Parkplätzen, kann durchaus den Eindruck gewinnen, dass ein Tempolimit nahe null durchaus ein Segen sein könnte. Das käme, ganz nebenbei, der altersbedingten und damit natürlichen Verlangsamung von uns allen segensreich entgegen. Wo der Mensch als Pimpf noch die Welt im Laufschritt erobert, verlangsamt er sich mit fortschreitendem Lebensalter nun mal zusehends, bis der Rollator eines Tages sein natürlicher Verbündeter wird.

Nicht zuletzt deshalb muss einen der grassierende E-Bike-Boom mit tiefer Sorge erfüllen. Greift hier nicht ein Verkehrsmittel, das die körperlich nachlassenden Kräfte frivol überspielt auf unheilvolle Weise in den natürlichen Prozess der Verlangsamung des alternden Individuums ein? Wer je auf Radwegen in die panisch verzerrten Gesichter entfesselter E-Bike-Seniorinnen und -Senioren geblickt hat, kann ermessen, wie schmal der Grat ist zwischen dem Glück, sich pfeilschnell und fröhlich surrend fortzubewegen und der bangen Frage, wie denn das verdammte Ding wieder zum Stillstand zu bringen wäre.

Bleibt schlussendlich wieder mal die Erkenntnis, dass nicht alles, was technisch möglich ist, dem Menschen auch wirklich frommt. Selbsterkenntnis ist in diesem Fall womöglich die beste Überlebensstrategie.

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