Süddeutsche Zeitung

Klimaerwärmung:Guten Rutsch

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Eisschmelze mit Folgen: Der Rückgang des Aletschgletschers bringt die umgebende Bergwelt ins Rutschen. Dank ausgeklügelter Technik gleitet die neu gebaute Bergstation der Moosfluhbahn kontrolliert mit.

Von Johanna Pfund

Mit diesen Folgen hatten die verzweifelten Fiescher aus dem oberen Rhonetal nicht gerechnet. 1678 gelobten die frommen Schweizer, alljährlich in einer Prozession für den Rückgang des Aletschgletschers zu beten. Dessen Schmelzwasser flutete den Märjelensee oberhalb des Fieschertals und zerstörte Häuser sowie Fluren unten im Tal.

Die Gebete wurden erhört. 340 Jahre später ist der Gletscher zwar immer noch der größte der Alpen. Aber er hat an Länge und Mächtigkeit deutlich eingebüßt. Die Gefahr der Überflutung ist gebannt. Durch den Rückgang des Eises verliert jedoch ein angrenzender Berg an Halt. Ausgerechnet dort, wo die Moosfluh nachrutscht, steht die Bergstation einer Seilbahn, die vor wenigen Monaten in Betrieb ging. Die Aletsch Riederalp Bahnen AG hat aus der Not eine Aufgabe für Ingenieure gemacht: Die Bergstation rutscht sanft mit dem umgebenden Gelände - ein Novum in den Alpen.

"Wir mussten das machen, sonst wäre die Riederalp abgeschnitten gewesen", erzählt Valentin König, Direktor der Bergbahnen Riederalp und Bettmeralp. Die drei Dörfer Riederalp, Bettmeralp und Fiescheralp auf dem 2000 Meter hoch gelegenen Plateau zwischen Aletschgletscher und Rhonetal haben sich ganz der Autofreiheit verschrieben, ein Netz aus Seilbahnen verbindet die Dörfer untereinander und mit dem Tal. Vor dem Zweiten Weltkrieg war das kein Problem, dienten die Hütten doch in erster Linie als Sommerunterkunft, solange das Vieh oben weidete. Sommerfrischler wie der deutsch-britische Bankier Ernest Cassel, der sich 1901 oberhalb von Riederalp eine Villa bauen und das Material dafür von Mulis und kräftigen Wallisern transportieren ließen, schätzten einer Anekdote zufolge den schwierigen Zugang: Als ihm die Oberwalliser einen besseren Weg bauen wollten, drohte Cassel, in diesem Fall nicht mehr zu kommen.

In den 1950er-Jahren hätte Cassel wohl kein Gehör mehr gefunden. Der Entschluss, das Gebiet zu einer Tourismus-Destination zu entwickeln, war gefasst und damit hatten auch Maultiere und Träger ausgedient. "Man hat von Anfang an auf die Seilbahn als Verkehrsmittel gesetzt. Das wurde nie angezweifelt", erzählt Toni König, Vater des aktuellen Bergbahnchefs und zudem dessen Vorgänger bei der Bettmeralp Bahnen AG. Trotz eines Unglücks 1996 hielten die Dörfer an der Seilbahn fest und wählten damit ein laut Unfallstatistiken ziemlich sicheres Verkehrsmittel. Denn gemessen an der Zahl der Fahrgäste ist eine Fahrt mit der Seilbahn weit weniger unfallträchtig als eine Fahrt im Auto - solange der Untergrund für Stützen und Bergstation stabil ist.

Auf der Moosfluh ist genau das nicht mehr der Fall. Tief im Inneren der eher unspektakulären Graterhebung in 2333 Metern Höhe wandert eine Fläche von etwa ein bis zwei Quadratkilometern in Richtung Nordwesten. Aufmerksame Beobachter können die Bewegung des Berges nachvollziehen. Bergführer Martin Nellen aus Riederalp sieht die Veränderungen, wenn er von der Moosfluh nach Nordwesten, Richtung Gletscher, absteigt. "Es gibt gespaltene Felsen oder Löcher im Boden", sagt er. "Wenn man das Gebiet kennt, merkt man es." Und das Nachmessen bestätigte diesen Eindruck. "Man hat prognostiziert, dass sich der Berg in den nächsten 25 Jahren elf Meter horizontal und neun Meter vertikal bewegen wird", erzählt Valentin König. Ein neues Problem, denn in der Regel haben Seilbahnbetreiber damit zu kämpfen, dass der Permafrost zurückgeht und damit gesetzte Stützen instabil werden.

Schon in den 1990ern hatte die Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie der ETH Zürich (VAW) festgestellt, dass durch den Mächtigkeitsverlust des Gletschers Stabilitätsprobleme an den umliegenden Felswänden entstanden seien, und prognostizierte eine Verschärfung des Problems, sollte der Gletscher weiter zurückgehen. Der Zusammenhang zwischen Rutschbewegung und Gletscherschwund ist in der Wissenschaft umstritten. Hier aber trifft er zu, ein einzigartiges Phänomen. "Je weiter sich der Gletscher zurückzieht, umso mehr kommt der Hang in Bewegung", sagt Franziska Glüer, Doktorandin der Erdwissenschaften an der ETH Zürich, die seit 2013 mit ihrer Gruppe ein Monitoring-Netzwerk im Bereich der Gletscherzunge und so auch an der Moosfluh aufbaut.

Die Moosfluh-Bahn ist attraktiv, weil sie neue Antworten gibt auf die Probleme in den Alpen

Ins Gelände gesetzte Reflektoren geben im Stundenrhythmus Aufschluss über die Rutschung. "Das geht langsam, erfährt aber immer wieder periodische Variationen durch Niederschläge, veränderte Hanggeometrie oder Schneeschmelze", erläutert Glüer. Die Prognosen der Geologen, die die Bergbahn beauftragt hat, sind nach Ansicht der Wissenschaftlerin keineswegs aus der Luft gegriffen. "Auch meine Daten zeigen, dass die Moosfluh ständig in Bewegung ist." Man sehe großräumige, jährliche Schwankungen in der Bewegungsstärke, auch, dass sich die Bewegungen im Zusammenhang mit dem Gletscherrückzug vergrößert haben. An der sogenannten Stirn, am tiefsten erreichten Punkt, werden die Bewegungen laut Glüer von kleinen, lokalen Rutschungen überprägt. Durch ihre Größe und Komplexität werde die Moosfluh den Forschern wohl noch viele Jahre Stoff zum Untersuchen und Überwachen geben, schätzt die Wissenschaftlerin.

Viel Zeit zum Forschen hatte die Bergbahn nicht. Das war offenbar auch den Behörden klar. Obwohl die Moosfluh an das Unesco Welterbe Schweizer Alpen Jungfrau-Aletsch grenzt, erteilte das Bundesamt für Verkehr in Bern in nur neun Monaten die Genehmigung, erzählt König. Zwischen dem Beginn der intensiven Planung und der Eröffnung im Dezember 2015 lagen dann lediglich zweieinhalb Jahre.

Die Idee, dass das Bauwerk nicht gegen, sondern mit dem Berg arbeitet, klingt einfach. Doch dahinter steckt ein kompliziertes technisches Konzept. Ausgetüftelt haben es das Ingenieurbüro SPI, das Geologiebüro OSPAG und die Seilbahnbauer von Garaventa / Doppelmayr. Die Bahn ist in zwei voneinander getrennte Sektionen geteilt. Von der Talstation Riederalp bis zur Mittelstation Blausee handelt es sich um eine konventionelle Seilbahn: Achter-Gondeln wie auch Sechser-Sessel sind eingehängt - die Sessel für die Skifahrer, die im Winter ihre Ski nicht abschnallen wollen, die Gondeln in erster Linie für die Wanderer, die winters wie sommers von der Moosfluh aus ihren Blick auf die Schweizer Vorzeigeberge schweifen lassen wollen: Eiger, Mönch und Jungfrau im Nordosten, das Matterhorn im Südwesten. Ab der Mittelstation aber ist Flexibilität das kennzeichnende Element. Der bergseitige Teil der Mittelstation lässt sich wie ein Gelenkbus schwenken, um bis zu zwei Grad nach Nordwesten, sie folgt also der Rutschrichtung. Auch die Stützen zwischen Mittel- und Bergstation sind mobil. Sie stehen auf Schienen und können - je weiter oben am Berg, desto mehr - um bis zu 6,5 Meter horizontal verschoben werden.

Meisterin des Nachgebens ist die Bergstation - und das bei einer Masse von etwa 1000 Tonnen. Stütze und Seilführungen liegen in einer Betonwanne, die wiederum auf hydraulischen Pfeilern gelagert ist. Dank dieser Vorrichtung kann die Bewegung des Berges ausgeglichen und die Wanne stets wieder nivelliert werden. "Es gibt kein Sicherheitsproblem", versichert Valentin König. Die Bergstation gleite sanft mit dem Berg mit. Zudem kann auch der Seilverlauf immer wieder angepasst werden. Fehlersichere Sensoren - ein sogenanntes Rope Position Detection System - prüfen die Seillage auf allen Rollenbatterien. Bewegt sich das Seil aus der Rille, verlangsamt die Bahn ihre Geschwindigkeit oder stoppt. Zudem ist die Bergstation mit GPS-Empfänger ausgerüstet. Damit nicht genug der Vorsichtsmaßnahmen: Die Fundamente werden Jahr für Jahr komplett neu vermessen, und die Bewegungen unter der Betonwanne der Bergstation mit Inklinometermessungen erfasst. Ein gigantischer Aufwand, der seinen Preis hat.

Insgesamt 23 Millionen Franken hat die Aletsch Riederalp Bahnen AG für die Gletscherbahn Moosfluh ausgegeben. Dafür ist auch die Resonanz beachtlich. Seit der Eröffnung vor einigen Monaten kommen laut König Besucher aus dem ganzen Alpenraum, um die Moosfluh-Bahn zu begutachten. Es ist ja nicht auszuschließen, dass an anderen Orten ähnliche Probleme auftreten können. Das Gelübde von 1678 hat der ebenso findige wie umtriebige Lokalpolitiker Herbert Volken, Präfekt des Bezirks Goms, übrigens mit päpstlichem Segen an die Neuzeit anpassen lassen. Seit 2012 wird bei der Prozession im Sommer ein geänderter Text gesprochen, in den Fürbitten sucht man göttlichen Beistand gegen Erderwärmung, Klimawandel und Gletscherschmelze. Flexibilität ist nicht nur beim Bergbahnbau wichtig.

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Quelle:
SZ vom 03.09.2016
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