Kapitäne von Ozeanriesen am Simulator:Nur der digitale Ernstfall ist ohne Folgen

Kreuzfahrtschiffe beherbergen so viele Gäste wie Kleinstädte Einwohner haben. Die Kapitäne der Ozeanriesen tragen die Verantwortung an Deck. In der Nähe von Amsterdam proben sie täglich den Ernstfall: an einem Simulator und ganz ohne Risiko.

Klaus C. Koch

Noch 15 Meter" meldet Lorenzo auf der Brücke, als der Ozeanriese der Costa Serena-Klasse in Echtzeit-Simulation rückwärts an den Anleger in Fort Lauderdale einschwenkt. Backbord voraus sind bereits zwei Kolosse vertäut, in Fahrtrichtung tauchen die Tanks einer Ölraffinerie auf. Bei nur noch einem Dutzend Meter Abstand wäre es auch mit nur noch 1,94 Knoten (rund 3,5 km/h), die in diesem Moment als Geschwindigkeit angezeigt werden, schon zu spät, um noch zu verhindern, dass mehrere Zehntausend Tonnen an bewegter Masse das Kai demolieren.

Giambattista, ein Bulle von Mann, dessen Gesicht ein tiefschwarzer Bart unter dem kahlen Schädel rahmt, weist den nervösen Steuermann darauf hin, dass es nicht 15, sondern noch 150 Meter sind. Besser so, denken wir uns, als andersherum. "One-five-zero" meldet Giambattista noch einmal laut und deutlich auf Englisch, damit auch der Lotse im Kontrollraum, der die kritischen Szenen per Rechner einspielt, die Bestätigung über sein Handfunkgerät versteht.

Antennestraat, Audioweg und Spanningsveld heißen die Straßen in dem kleinen niederländischen Hafenstädtchen Almere, die vor den Toren von Amsterdam zu einem eher unauffälligen dunklen Zweckbau führen. Dessen Innenleben ist ungleich komplizierter, als es von außen aussehen mag. Das "Center for Simulator Maritime Training", kurz CSMART genannt, beherbergt gleich mehrere Kommandobrücken, von denen zwei die Steuerzentralen von Ozeanriesen der Carnival Cruise Lines und der Costa Crociere wiedergeben. 16 Meter im Durchmesser und mit bis zu viereinhalb Meter hohen Bildschirmwänden ausgestattet, lernen hier auch angehende Kapitäne der Aida, Cunard und Princess Cruises maßstabsgetreu, wie sich ihre bis zu 300 Meter langen Giganten der Meere im Zweifel verhalten. 22 Instruktoren, Ausbilder und Ingenieure arbeiten hier.

Die Havarie der Costa Concordia war eine Warnung für die gesamte Kreuzschifffahrt

Die Chefs auf der Kommandobrücke von Ozeanriesen tragen hohe Verantwortung. Sie steuern schwimmende Paläste, die so viele Passagiere fassen, wie eine Kleinstadt Einwohner hat. Mit Fingerspitzengefühl manövrieren sie die Kolosse zwischen Inseln, durch Buchten und enge Hafeneinfahrten hindurch. Manchmal allerdings kann es vorkommen, dass sie auch mal über eine Untiefe hinwegschrammen, die Kaimauer lädieren, oder sie stellen die Stabilität der Schiffsaußenhaut auf die Probe. In gravierenden Fällen wie der Havarie des Kreuzfahrtriesen Costa Concordia, die vor der italienischen Insel Giglio mit einem Fels kollidierte, wird aus dem stolzen Dampfer auch ein Wrack.

Die technischen Einrichtungen im Simulator sind auf dem neuesten Stand. Der Seegang ist geradezu physisch erspürbar. Neigt sich das Schiff zur Seite, gibt das Rund der mannshohen Monitore die Krängung perfekt wieder. Die gesamte Bildschirmwand scheint abzukippen. Wer nicht darauf vorbereitet ist, glaubt in der Tat, sich festhalten zu müssen. Hans Hederström behauptet, dass sich bei einer Führung mit älteren Kapitänen schon mal einer der Herren die Knöchel verstauchte, als er versuchte, die vermeintliche Schwankung des Schiffes durch Gewichtsverlagerung auszugleichen.

Hederström, vormals Lotse in Göteborg, entwarf 2008 im Auftrag der Princess Cruises das Trainingszentrum in Almere. Damit er den Bezug zur Realität nicht verliert, arbeitet er an seinem Schreibtisch stehend wie auf der Kommandobrücke an einem Pult. Eine Bücherwand mit Fachliteratur und ein Nachweis der Zertifizierungs-Organisation Det Norske Veritas zieren das Büro des Schweden. Seiner Auffassung nach sind es die Skandinavier, die die moderne Seeschifffahrt umgekrempelt haben. Zwischen Tausenden Schären zu navigieren, habe den nordischen Schiffsführern schon immer mehr an Fähigkeiten abverlangt, als den Kapitänen anderer Nationen. Trotzdem drohte auch dort in den sechziger und siebziger Jahren angesichts zunehmender technischer Komplexität auf den Kommandobrücken der Überblick verloren zu gehen.

Ein neues Konzept in der Schiffsführung musste her. Wer Kapitän werden will, muss ein Studium der Nautik und Schiffsbetriebstechnik absolvieren. Am Ende steht ein internationaler Standard, der sich STCW 95 nennt. Doch mit der Praxis hapert es bisweilen, wie ein Kapitänsanwärter einräumt. "Auf einem Frachter wirst du oft ins kalte Wasser geschmissen", sagt der junge Mann, der Jan C. Kreisel auf seinem Namensschild stehen hat durchaus doppelsinnig. Er soll später einmal ein Kreuzfahrtschiff der Aida-Klasse steuern. Weil er durch Besucher abgelenkt wird, beginnt sich auch sein Simulationsmodell urplötzlich schiefzulegen.

Eine Fehlerkultur wie in der Atomindustrie

Vorbei sind in der Passagierschifffahrt die Zeiten, in denen ein Kapitän wie weiland Melvilles Ahab die Mannschaft nach Gutdünken gängeln konnte. Abgeschafft ist auch die Tradition, derzufolge einer die Alleinherrschaft ausübt und alle anderen zu schweigen hatten. Hederström ist auf eine Art von Fehlerkultur stolz, wie sie unter anderem in der Flugzeugtechnik und der Atomindustrie üblich sei und nun auf immer mehr Schiffen Anwendung finde. "Fehler passieren", meint er. Aber die Situation müsse auch dann noch beherrschbar sein. Oberstes Prinzip, sagt Paolo Ansaldi, sei es "laut zu denken". Im Seminar übt der Instruktor das in einem Rollenspiel mit den Männern. Kursänderungen und wichtige Werte wie Wassertiefe oder Entfernung vom Ufer werden stets laut und deutlich für alle, die auf der Brücke sind, wiederholt. Interessant wird es, wenn ein Lotse an Bord kommt: Wer hat dann das Kommando (der Kapitän), wer führt die Anweisungen aus, und vor allem: Wurde auch alles richtig verstanden? Claas, für die Aida auf Kurs, behauptet, schon mal "sehr lange überlegt" zu haben, bevor er Anweisungen des Lotsen befolgte, die ihn in Hamburg zu nah an ein Trockendock von Blohm & Voss herangeführt hätten. "Ich habe gern 50 Meter dazwischen", meint er trocken. Studien belegen, dass nur die Hälfte aller Steuerleute sich noch einmal rückversichert, ob sie den Lotsen nicht missverstanden haben. Ansaldi betont: "Die Kommunikation hat oberste Priorität."

Roon Heimel, Lotse mit Kapitänspatent in Amsterdam, sagt, dass die Bedingungen auf den Schiffen völlig unterschiedlich sind. Der eine übergibt komplett das Steuer, wenn der Ortskundige die Bühne betritt, und geht in seine Kabine, um sich endlich mal Duschen und Rasieren zu können. An anderen Orten der Welt, an denen die Lotsen keineswegs durchgehend selbst über ein Kapitänspatent verfügen, wäre es womöglich unklug, die Befehlsgewalt über einen Kreuzfahrtriesen an einen Einheimischen zu übergeben, der sich mit dem Azipod-Antrieb und der Steuerung nicht auskennt.

Experten wie Hederström sähen es gerne, wenn nach Schiffsunfällen die Untersuchungen ähnlich akribisch durchgeführt würden wie bei Flugzeugunglücken. Aber auf absehbare Zeit, meint er, werde es wohl dabei bleiben, dass nationale Ermittlungsbehörden lediglich Nachschau hielten, ob sie selbst alles richtig gemacht hätten.

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