Jubiläum in München:30 Jahre bleifreies Benzin

Eröffnung der ersten bleifreien Zapfsäule

Zur Eröffnung der ersten Zapfsäule mit bleifreiem Benzin gab Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) in München den Tankwart.

(Foto: dpa)

"Der Patient Wald ist krank": Vor 30 Jahren hat eine Münchner Tankstelle als erste in Europa bleifreies Benzin eingeführt - es war das Friedensangebot der Deutschen an den sterbenden Wald.

Von Paul Munzinger

An einem heißen Sommertag des Jahres 1983, so will es die Legende, schnürte das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland seine Wanderschuhe und begab sich ins Niederbayerische. Was Karl Carstens, damals Bundespräsident und zeitlebens Waldliebhaber, auf seiner Wanderung sah, machte ihn fassungslos: Der Wald litt, die Bäume starben.

Zurück in Bonn alarmierte Carstens die Regierung. Und die Regierung handelte. Eine Woche später verkündete Innenminister Friedrich Zimmermann, damals auch für die Umwelt zuständig, den Beginn einer neuen Ära: das Zeitalter des schadstoffarmen Autos, das Friedensangebot des modernen Menschen an den deutschen Wald. Politik kann manchmal ganz einfach sein, davon erzählt diese Geschichte. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Aber so einfach ist es natürlich nicht.

Am 7. November 1983, 30 Jahre ist das jetzt her, nahm die Allguth-Filiale in der Münchner Von-Kahr-Straße als erste kommerzielle Tankstelle Europas die vierte Zapfsäule in Betrieb: Bleifrei - neben Normal, Super und Diesel, der Liter für 1,389 Mark. Zur Eröffnung gab es Brotzeit und Blasmusik. Viele waren in Lederhosen gekommen, um zu tanken oder anderen beim Tanken zuzusehen.

Geburtshelfer des bleifreien Benzins

Innenminister Zimmermann von der CSU, selbst gebürtiger Münchner, gab den Tankwart. Danach setzte er sich an eine Bierbank mit weiß-blauer Rautentischdecke und erzählte den Journalisten, welch großer Schritt mit der Einführung des bleifreien Benzins gelungen sei, für die Natur und für das Land. Glaubt man seinen Memoiren, dann war Zimmermann, der vor einem Jahr 87-jährig starb, nicht nur Geburtshelfer, sondern auch Taufpate des bleifreien Benzins. Während die "Semantik-Pingler" von der Industrie den neuen Kraftstoff unter dem Namen "unverbleit" verkaufen wollten, bestand er auf der Marke "bleifrei" - wohl wissend, dass Freiheit und Autofahren für viele Deutsche zusammengehören.

Das bleifreie Benzin sollte nicht nur ein giftiges Schwermetall aus dem Straßenverkehr verbannen, das die Autos auf Kniehöhe in die Straßen bliesen. Es war vor allem die Voraussetzung für den Einbau von Katalysatoren, welche die übrigen Schadstoffe - Kohlenwasserstoffe, Kohlenstoffmonoxid, Stickoxide - fast restlos aus dem Abgas filtern, am Blei aber zugrunde gehen.

In den USA und Japan war das bleifreie Benzin schon in den Siebzigern eingeführt worden. Auch in Deutschland hatten Umweltverbände seit Jahren darauf gedrungen. Sie waren an der sozial-liberalen Koalition unter Helmut Schmidt ebenso gescheitert wie nach 1982 an der Regierung Helmut Kohl. Noch im Mai 1983 hatte Zimmermann einen Vorstoß des SPD-regierten Landes Hessen zur Einführung des bleifreien Benzins im Bundestag noch weggelacht, den Initiatoren "Weltfremdheit" vorgeworfen. Wenige Wochen später ging er selbst in die Offensive.

War Zimmermann also ein Wendeminister, wie die Opposition damals schimpfte? Oder einer, der handelte, während alle anderen nur forderten? Darüber lässt sich auch heute noch streiten, weil sich dahinter eine viel größere Frage verbirgt: wie ökologischer Fortschritt gemacht wird und wer sich dafür auf die Schulter klopfen darf. Derjenige, der eine Idee hat? Oder derjenige, der sie umsetzt?

Die grüne Seite der Union

Carl-Dieter Spranger war unter Zimmermann Staatssekretär, später selbst Minister für Entwicklungshilfe. Die Anekdote um Carstens' folgenreichen Waldspaziergang gefällt Spranger überhaupt nicht. Das Wort vom Wendeminister noch weniger. Es ruft bei ihm ein ungutes Gefühl wach, das auch Zimmermann gut kannte: das Gefühl, ein Politikerleben lang zu Unrecht auf die Rolle des selbst für CSU-Verhältnisse erzkonservativen Hardliners festgenagelt zu sein. Für Grautöne, so sieht es Spranger, sei in diesem Schwarz-Weiß-Bild kein Platz, und auch nicht für andere Farben. Grün, zum Beispiel.

Nachhilfe in Sachen Umweltschutz habe Zimmermann nicht nötig gehabt, sagt Spranger. Schon gar nicht von den Grünen, die Anfang 1983 auf dem Höhepunkt der Debatte über das Waldsterben erstmals in den Bundestag eingezogen waren. "Zimmermann war der wirkungsvollste und erfolgreichste Umweltminister, den Deutschland je hatte", sagt Spranger. "Er hat das alles aus innerer Überzeugung gemacht. Das wird völlig unterschlagen, weil es nicht ins Klischee passt."

Gescheitert sei Zimmermann, wie die gesamte Union, nur in einem Punkt: der Öffentlichkeit die grüne Seite der schwarzen Partei zu zeigen. Tatsächlich dürfte den wenigsten spontan die Großfeuerungsanlagen-Verordnung oder die Verschärfung der "Technischen Anleitung zur Reinhaltung der Luft" in den Sinn kommen, wenn sie an Zimmermann denken. Schon eher die Geschichte um einen Meineidsprozess, die ihm den wenig schmeichelhaften Spitznamen Old Schwurhand eintrug.

"Die Politik konnte an diesem Thema nicht vorbei"

"Es gab einen gesellschaftlichen Druck, weil die Wälder starben", sagt Dieter Drabiniok. "Die Politik konnte an diesem Thema nicht vorbei. Da die Union an der Regierung war, hat sie gehandelt. Wäre die SPD an der Regierung gewesen, hätte sie auch gehandelt." Als Drabiniok 1980 die Grünen mitgründete, war er 25 Jahre alt und ein geläuterter Mann. Ein paar Jahre zuvor hatte er zur Dauerwelle noch eine Rolex getragen, zum Shoppen war er im BMW gefahren. Dann fiel ihm ein Artikel über die Grenzen des Wachstums in die Hände, die berühmte Studie des Club of Rome, die der erstaunten Welt 1972 vorrechnete, wann ihre Ressourcen zu Ende gehen würden. Mit einem Mal fühlte sich Drabiniok persönlich verantwortlich. Er begann, sich Plakate umzuhängen und gegen die Nachrüstung zu demonstrieren. Den BMW tauschte er gegen einen Fiesta, die Haare ließ er wachsen, genauso den Bart. 1983 zog er mit der ersten Grünen-Fraktion in den Bundestag.

Drabiniok landete im Verkehrsausschuss und machte das, was Abgeordnete kleiner Oppositionsparteien im Bundestag eben tun: Er schrieb Anträge, Anfragen und Gesetzentwürfe, manchmal 18 Stunden am Tag. In einem der Gesetzentwürfe, datiert vom 14. Juni 1983, forderte er die Einführung von bleifreiem Benzin zum 1. Juli 1984. Als zwei Monate später darüber beraten wurde, hatte die Regierung die Einführung des bleifreien Benzins schon beschlossen. Zum 1. Januar 1986.

Drabiniok ist heute weit davon entfernt, die Einführung des bleifreien Benzins für die Grünen zu reklamieren oder gar für sich selbst. Genauso weit ist er aber davon entfernt, das Thema der Union zu überlassen. Schon gar nicht Zimmermann, der immer ein Feindbild gewesen sei.

"Die Debatte hatte etwas Apokalyptisches"

Die Grenzen des Wachstums sind Drabinioks Lebensthema. Genau wie für Ernst Fiala. Nur dass diese Grenzen für Drabiniok längst erreicht sind, während es sie für Fiala überhaupt nicht gibt. 16 Jahre lang leitete Fiala die Forschungsabteilung von Volkswagen. Wenn der Golf einen Vater hat, dann ist es Fiala. Und wenn Zimmermann in seinem Kampf gegen das Blei einen Gegenspieler hatte, dann ist es auch Fiala. Ihm sei es nie darum gegangen, den Umweltschutz aufzuhalten, sagt Fiala, im Gegenteil. Nur sei er der Meinung, dass man Vernünftiges tun und Unvernünftiges lassen solle. Die Einführung des bleifreien Benzins hielt er damals für unvernünftig. Weil der Verzicht auf das Blei den Verbrauch erhöht habe statt ihn zu senken. Weil nicht klar gewesen sei, ob die Motoren das bleifreie Benzin auch vertragen würden. Weil es das Waldsterben ohnehin nie gegeben habe.

Fiala, 85, lebt wieder in seiner Geburtsstadt Wien. Er hält Vorlesungen an der Technischen Universität und hat einige Bücher geschrieben. "Wachstum ohne Grenzen" heißt eines davon. Es ist seine leicht verspätete Antwort auf den Club of Rome, der das Wachstum in die Schmuddelecke verbannt habe, in der es bis heute stehe. Unter der Rubrik Provokation hat er auf seiner Homepage Thesen zusammengestellt, die dem Zeitgeist vors Schienbein treten. Dass es genug Rohstoffe für alle Menschen und Generationen gebe, dass die Energie unerschöpflich sei. "Ich provoziere gern", sagt Fiala, "weil ich auf Widerspruch hoffe." Zimmermann tat ihm den Gefallen. Dafür hat Fiala auf seine Art sogar Verständnis. "Ein Politiker muss sich profilieren. Wie kann er das tun? Indem er in das allgemeine Geheul einstimmt", sagt er und schiebt charmant hinterher: "War das jetzt zu provokant?"

Zimmermann kündigte seine Umwelt-Offensive 1983 mit den Worten an: "Der Patient Wald ist krank. Wir müssen mit der Behandlung beginnen, ohne die Ursache der Krankheit genau zu kennen." Ob es dem Wald heute besser geht als vor dreißig Jahren, ist eine Frage, über die noch immer gestritten wird. Dass die Debatte um das Waldsterben etwas Apokalyptisches hatte, dürfte dagegen niemand bestreiten.

So brachial Zimmermann über die Einwände der Auto-Industrie hinwegging, so fest saßen sie in den Hinterköpfen der Autofahrer. Im Zweifel, ob das eigene Auto dem neuen Sprit gewachsen sei, entschieden sich die meisten für das Altbekannte; dass das Benzin ohne Blei bis 1986 teurer war als das Benzin mit, tat ein Übriges. Es dauerte noch Jahre, bis eine Tankstelle, die das Bleifreie einführte, keine Meldung in der Zeitung mehr wert war. Auch die Gesetze, die den Katalysator vorschrieben und das Blei endgültig aus dem Benzin vertrieben, mussten sich etappenweise durch mühsame EG-Verhandlungen kämpfen. Europaweit wurde das bleihaltige Benzin erst im Jahr 2000 verboten.

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