Jaguar XJ12 / Daimler Double Six:Die Katze hat nun noch mehr Mumm

Allerdings hat es fünf Jahre gedauert, bis der V12 in die XJ6-Karosserie verpflanzt wurde

(SZ vom 27.03.1993) Wer Jaguar sagt, meint Luxus, Flair, Ausstattung, Noblesse - und natürlich Komfort. Erstaunlicherweise fühlt sich der neue XJ12 dieser Tradition nur bedingt verpflichtet. Seine oberste Prämisse lautet, etwas schockierend und völlig unerwartet: Fahrvergnügen über alles. Um dieses Ziel zu erreichen, kramten die Engländer ausnahmsweise nicht im Arsenal der technischen Gestrigkeiten. Statt dessen wagten sie einen Blick nach Deutschland, wo der BMW 750i und der Mercedes 600 SE die Maßstäbe im Zwölfzylinder-Korral setzen. Um mit den Platzhirschen konkurrieren zu können, verwandelten sie den XJ12 vom schnurrenden Kokon in eine dynamische, betont fahraktive Limousine. Nein, der 6,0-Liter- Zwölfzylinder ist nicht mehr das laufruhigste Aggregat seiner Art. Und das Fahrwerk hat ein wenig von seiner sänftenartigen Kuscheligkeit verloren. Dafür bietet die Katze aus Coventry jetzt Leistung satt, eine mitteilsame Lenkung sowie eine trittsichere und agile Radaufhängung.

Der größte Schwachpunkt des XJ12 ist seine kantige, knapp geschnittene Karosserie. Zur Feier des Tages installierten die Jaguar-Designer neue Sitze und andere Türtafeln, aber diese Detailverbesserungen können nicht darüber hinwegtäuschen, daß es im XJ12 ähnlich eng zugeht wie in einem 525i oder einem 300 E. Der 7er-BMW ist beispielsweise innen wie außen eine ganze Nummer größer, und zur S-Klasse verhält sich der Jaguar ohnehin wie ein Matchbox-Auto zu einem Corgi Toys-Produkt. Die optischen Änderungen gegenüber dem XJ6 lassen sich an einer Hand abzählen. Die Jaguar-Version erkennt man an den Doppel-Rundscheinwerfern, dem schwarzen Grill und den Kreuzspeichen-Felgen; zu den Stilmerkmalen des Daimler Double Six gehören filigranere Räder, zusätzliche Chromzierleisten und das typische Gesicht mit Fönwellengrill und Breitbandscheinwerfern. Für den beachtlichen Mehrpreis von 28 800 Mark bietet der 154 300 Mark teure Daimler zusätzlich Nebellampen, eine heizbare Frontscheibe, hintere Einzelsitze, Sonderleder mit Kedern in Kontrastfarbe, Picknicktische, ein elektrisches Schiebedach, Lammfellteppiche und einen CD-Wechsler. Den Beifahrer-Airbag sucht man allerdings vergeblich.

Um den Zwölfzylinder unter die Haube des XJ6 zu verpflanzen, waren über 140 Rohbauänderungen notwendig. Dazu gehören 60 neue Blechteile, wobei die Verbreiterung des Getriebetunnels einen besonderen Kraftakt darstellte. Sie wollen wissen, warum sich Jaguar mit dieser Transplantation über fünf Jahre Zeit gelassen hat? Weil der damalige Cheftechniker Jim Randle den Motorraum bewußt eng ausgelegt hat, damit Leyland (damals die Konzernmutter) nur nicht auf die Idee kam, den 3,5-Liter-V 8 aus dem Rover 3500 in den XJ6 einzubauen und auf diese Weise dem Zwölfzylinder das Lebenslicht auszublasen. Nach der Privatisierung der Firma gab der Vorstandsvorsitzende John Egan prompt eine XJ12- Langversion in Auftrag, doch dieses Auto landete verdientermaßen auf dem Schrottplatz der ewigen Jagdgründe. Der Wagen war nämlich nicht nur ausnehmend häßlich, sondern mit dem 5,3-Liter- Motor nach Meinung der Marketing-Spezialisten auch untermotorisiert. Unter der Ägide von Ford wagten die Engländer einen dritten Anlauf. Diesmal blieb es beim kurzen Radstand, aber dafür beschloß man, den Hubraum des V12 auf 6,0 Liter zu vergrößern.

OPEC-freundlicher Verbrauch

Das neue Aggregat, das übrigens mit dem Walkinshaw-Motor aus dem XJS-R 6,0 nicht artverwandt ist, weist eine Leistungssteigerung um 22 Prozent auf 229 kW (311 PS) sowie ein auf 373 Nm gewachsenes Drehmoment, das bei 3750 Touren zur Verfügung steht, auf. Obwohl der XJ12 stolze 1985 Kilogramm auf die Waage bringt, beschleunigt die anglophile Katze in 7,4 Sekunden von Null auf 100 km/h. Die Höchstgeschwindigkeit von 250 km/h wird diesmal ausnahmsweise nicht elektronisch, sondern durch die Koalition aus Wind- und Rollwiderstand geregelt. Der Drittelmixverbrauch beträgt OPEC-freundliche 15,4 Liter, doch in der Praxis saugt der Zwölfender gern 20 Liter und mehr aus dem 87- Liter-Tank - was auch für ein Automobil dieser Leistungsklasse einfach nicht mehr zeitgemäß ist. Der 6,0-Liter-Motor reagiert spontan auf Gaspedalbefehle, und er geht schon bei niedrigen bis mittleren Drehzahlen mit Vehemenz zur Sache. Drehfreudigkeit ist dagegen nicht seine Stärke, und der anfangs seidenweiche Lauf wird oberhalb von 4500/min kerniger, kehliger und angestrengter. Jenseits der 220-km/h-Marke geht es unter der Motorhaube so lebhaft zu wie in einem Bienenstock während der Rush-Hour, aber dafür müssen Sie bei verhaltener Gangart schon ganz genau lauschen, um den Motor zu hören.

Daß der im Prinzip betagte V12 plötzlich so agil und aufmerksam wirkt wie eine Neuentwicklung, liegt nicht zuletzt an der neuen (paradoxerweise von GM zugekauften) Viergang-Automatik, die zehnmal rascher und sanfter schaltet als das mit flüssigem Valium gefüllte Dreigang-Getriebe des alten XJ12.

Um die Mehrleistung sicher in den Griff zu bekommen, rüsteten die Jaguar- Ingenieure den XJ12 mit härteren Federn und Dämpfern aus, spendierten ihm kräftigere Bremsen, montierten breitere Reifen und ersetzten die alte Wünschelruten- Lenkung durch einen neuen Richtungsfinder von ZF. Diese Maßnahmen führten dazu, daß Handling und Straßenlage im Vergleich zum XJ6 kaum noch wiederzuerkennen sind. Nehmen wir zum Beispiel die stark verbesserte Lenkung, die einen heißen Draht zu den Vorderrädern herstellt und mit 2,8 Umdrehungen von Anschlag zu Anschlag erfreulich direkt ausgelegt ist. Die Breitreifen sorgen in Verbindung mit dem serienmäßigen Sperrdifferential für mehr Grip und eine deutlich bessere Traktion. Das neu abgestimmte Fahrwerk nimmt dem Zweitonner die Angst vor Kurven und verleiht ihm ein neutraleres Handling sowie ein agileres Eigenlenkverhalten. Und die muskulöseren Bremsen haben die beträchtliche Masse auch bei extremer Beanspruchung stets sicher im Griff. Natürlich blieben diese Änderungen nicht ganz ohne Auswirkung auf den Abroll- und Langsamfahrkomfort, doch im großen und ganzen ist der XJ12 immer noch ein äußerst kommodes Auto.

Jaguar-Fans schwärmen gerne vom opulenten Interieur ihres Gentleman Express, doch wir meinen, daß es an der Zeit ist, diese Mär ins Reich der Fabel zu verweisen. Nichts gegen das duftende Connolly-Leder und die Hochflorteppiche, aber warum sind die Bedienungselemente nach dem Zufallsprinzip verstreut, wieso kann man die Tasten für die elektrische Sitzverstellung so schlecht erreichen, und weshalb steht die Handbremse mit dem Oberschenkel auf Kriegsfuß? Weitere Ungereimtheiten betreffen die unbequeme Sitzposition hinter dem häßlichen Airbag-Lenkrad, die knappe Kopffreiheit auf den Fondsitzen, die aus billigstem Plastik geformten Leseleuchten, die stark antiquierten Intarsien in der Holzverblendung (inklusive eines goldenen V12-Emblems), den inkompetenten Einarmwischer, die zermürbenen Windgeräusche und die unpraktische Kofferraum-Topographie.

Ohne diese Schwächen wäre dem XJ 12 schon heute ein Parkplatz in der ewigen Ruhmeshalle des Automobils sicher. Aber auch so wie er ist, übertrifft dieses Auto unsere Erwartungen bei weitem, denn der neue Motor sowie die Verbesserungen an Bremsen, Lenkung und Fahrwerk machen den Viertürer zur überzeugendsten Limousine, die Jaguar je gebaut hat.

Von Georg Kacher

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