Süddeutsche Zeitung

Bahn:Revolution im Güterverkehr

Die Bahn will eine europaweit einheitliche automatische Kupplung für Waggons einführen. Das könnte den Frachtverkehr auf der Schiene vollkommen verändern - und die Straßen deutlich entlasten.

Von Marco Völklein

Der Lokführer lässt einen lauten Pfiff ertönen, dann setzt er die Rangierlok in Gang. Gut 1000 PS schieben die beiden Güterwaggons an, direkt auf einen dritten Wagen, die Puffer knallen aufeinander - und mit einem lauten "Klack" rastet die Kupplung ein. "Das ist alles", sagt Sigrid Nikutta. "So einfach ist das." Wenn es nach der Chefin von DB Cargo, der Güterverkehrssparte der Deutschen Bahn (DB), geht, dann könnte dieses Klacken der Kupplungen künftig auf allen Rangier- und Umschlagbahnhöfen in Europa zu hören sein. Noch aber ist das nicht so.

Noch ist auf den meisten Güterbahnhöfen Handarbeit angezeigt. Wie vor 100 Jahren werden Güterzüge per Hand gekoppelt. Auch das lässt Nikutta, die seit diesem Jahr den DB-Güterbereich führt, zu Beginn dieser Woche auf einem Bahngelände in Minden in Westfalen demonstrieren: Ein DB-Arbeiter zwängt sich unter den Puffern durch in den Raum zwischen den Waggons. Mit beiden Händen hängt er den gut 20 Kilogramm schweren Bügel in den Haken, dreht anschließend ein Schraubgewinde straff. Und verbindet die Luftschläuche für die Druckluftbremse miteinander. Waggon für Waggon wird das so gemacht, nach wie vor. Gut 54 000-mal am Tag in Deutschland - so viele Kupplungsvorgänge gibt es allein bei DB Cargo.

"Zeit ist nun mal Geld"

Mit der automatischen Kupplung könnte sich das ändern. Es wäre eine "Revolution im Schienengüterverkehr", heißt es bei der Bahn. Durch das automatische Kuppeln würde viel Zeit gespart, "und Zeit ist nun mal Geld", sagt Nikutta. Das gilt insbesondere in der Logistik, wo Unternehmen ihre Lagerhaltung zurückgeschraubt und die Waren gerne "just in time" angeliefert bekommen, also genau dann, wenn sie in der Produktion oder im Verkauf gebraucht werden. Die Bahn hinkt da dem Lkw hinterher, der Anteil der Schiene am Warentransport in Deutschland schwankt seit Jahren zwischen 17 und 19 Prozent. Vor allem aus Gründen des Klimaschutzes soll er nach dem Willen der Bundesregierung bis 2030 auf 25 Prozent steigen. Damit könnten laut Nikutta 25 Millionen Lkw-Fahrten jährlich auf die Schiene verlagert werden.

Noch allerdings ist man davon weit entfernt. Mehr noch: Die Güterverkehrstochter der DB steckt tief in den roten Zahlen. 2019 machte DB Cargo etwas mehr als 300 Millionen Euro Verlust, für 2020 hatte der Vorstand (allerdings noch vor dem Corona-Lockdown) mit einem Minus von 350 Millionen Euro gerechnet. Verantwortlich dafür ist vor allem der aufwendige Einzelwagenverkehr, bei dem DB-Mitarbeiter einzelne Güterwaggons bei Firmen abholen, diese in Rangierbahnhöfen zu Zügen zusammenkoppeln, die Züge quer durch die Republik fahren, sie am Ziel wieder zerlegen und die einzelnen Wagen (oder Wagengruppen) zu den Firmenkunden bringen. Außerdem jagen private Bahnbetreiber der DB im Geschäft mit Direktzügen und im Containerverkehr Marktanteile ab.

Um also mehr Güter auf die Schiene zu bringen und zugleich DB Cargo in die schwarzen Zahlen zu bringen, muss viel getan werden, sagen Branchenkenner - und fordern immer wieder, das Schienennetz allgemein und vor allem die überlasteten Knotenbahnhöfe auszubauen sowie bestehende Gleisanschlüsse bei Firmen zu erhalten oder neue zu errichten. Ein weiterer "wichtiger Baustein" aber, sagt Nikutta, sei die automatische Kupplung. Denn die ermögliche insbesondere im Einzelwagenverkehr mehr Tempo und Effizienz.

Zusammen mit den Bahnen aus Österreich und der Schweiz sowie Waggonbetreibern wie VTG und GATX will die DB daher zunächst vier verschiedene Kupplungssysteme testen. Dazu werden die Ingenieure einen Versuchszug aus 24 Güterwaggons mit den Kupplungen ausrüsten und diesen auf Reisen schicken. Unter anderem sind Testfahrten auf einem Areal bei Görlitz geplant, wo sich der Zug auf engen Gleisbögen und einem Ablaufberg wird behaupten müssen. Auch mit der schwedischen Bahn habe man Testfahrten im hohen Norden bei Schnee, Eis und Minustemperaturen vereinbart, sagt Sabina Jeschke, im DB-Vorstand zuständig für Technik und Digitalisierung. 13 Millionen Euro wird das Ganze kosten, finanziert wird die Suche nach der besten Kupplung aus dem Etat von Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU).

Bis Ende 2022 sollen die Tests abgeschlossen sein. Dann soll auch eine Empfehlung stehen, welches der vier Kupplungssysteme eingeführt werden soll. Parallel wollen die Projektpartner auf EU-Ebene dafür werben, dass dieses System europaweit zum Einsatz kommt. Allein bei der DB überquert laut Jeschke heute schon jeder zweite Güterzug mindestens eine innereuropäische Grenze; künftig dürfte dieser Anteil wachsen. Unterm Strich lohnt sich das Ganze daher nur, wenn alle Zugbetreiber auf dem Kontinent mitziehen.

Doch das ist eine Mammutaufgabe. Europaweit wären von einer Umrüstung laut DB etwa 490 000 Güterwagen und 17 000 Lokomotiven betroffen - die Umrüstkosten dafür veranschlagt Nikutta auf 6,5 bis 8,5 Milliarden Euro. Ohne eine staatliche Förderung dürfte das im knapp kalkulierenden Transportgewerbe kaum zu bewerkstelligen sein. Die EU habe aber bereits im "Green Deal"-Programm signalisiert, dass Fördermittel dafür zur Verfügung stehen könnten, so Nikutta. Wenn alles nach Plan läuft, dann könnte die Umrüstung 2030 abgeschlossen sein.

Ansätze für automatische Kupplungssysteme bei der Güterbahn indes gab es bereits mehrere, zuletzt in den Siebzigerjahren. Sie alle scheiterten daran, dass "sie die kritische Masse nicht hinter sich bringen konnten", wie Jeschke sagt. Nun aber ist die DB optimistisch: Mit der Diskussion um den Klimawandel sei eine Neuausrichtung der Verkehrspolitik unumgänglich, sagt Nikutta: "Jetzt gilt es, dieses historische Zeitfenster zu nutzen."

Das gelte übrigens auch für das System des Einzelwagenverkehrs. Während andere Länder den Bereich zurückgefahren oder sogar ganz aufgegeben haben, möchte Nikutta nach eigener Aussage "das Einzelwagensystem erhalten und ausbauen". Im Grunde könnte man das Doppelte oder Dreifache der heutigen Menge (etwa 9000 Einzelwagenzüge pro Woche) fahren, sofern Handel und Industrie mehr Transporte auf die Schiene verlagern würden. Die aber zögern - auch weil ständige Vorstands- und Strategiewechsel bei DB Cargo nicht nur die Mitarbeiter, sondern auch viele Kunden verunsichert haben. Einige klagen über unpünktliche Züge, andere darüber, dass die Ansprechpartner ständig wechselten. Auch da muss die Cargo-Chefin ansetzen. Ihr Ziel sei es jedenfalls, erklärte sie am Montag in Minden, "mehr Masse ins System zu bekommen".

Ob das allerdings aus eigener Kraft gelingen kann, ist fraglich. Vor einigen Wochen erst hatte Nikutta zusammen mit Arbeitnehmervertretern in einem Brief an Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) finanzielle Unterstützung gefordert: 200 bis 250 Millionen Euro pro Jahr seien nötig, um den aus Sicht der Briefeschreiber ökologisch wie volkswirtschaftlich wichtigen Einzelwagenverkehr dauerhaft zu stützen. Dabei verwiesen die drei auf Österreich, wo es ein solches Modell bereits gibt.

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Quelle:
SZ vom 05.09.2020
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